Widdersdorf lebt
Wenn engagierte Menschen in weniger als zwei Stunden über 100 Ideen sammeln – ist das erfolgreich? Wenn unbekannte Menschen plötzlich herzhaft miteinander lachen – ist das Glück? Wenn Schulkinder sich Blitzer für eine vielbefahrene Straße wünschen – sind deren Eltern Polizisten? Das World Café, zu dem wir von ohfamoos nach Köln eingeladen hatten, hat schöne Blüten getrieben, eine besondere Dynamik erzeugt: 119 Ideen stehen nun parat!
Eins war zum Ende klar: Der Abend, bei dem es darum ging, sich Gedanken für eine bessere Zukunft im Kölner Veedel Widdersdorf zu machen, hat vielen richtig gut gefallen. Und ist nachahmenswert! Denn wenn sich viele in einer Kommune engagieren, entsteht ein viel besseres Miteinander.
„Am liebsten möchte ich gleich los legen!“
Manche waren zum allerersten Mal im Event-Café Rhythm & Shake, das bereits seit über vier Jahren eine kleine Institution am Jakobsplatz ist. Sie fanden eine hübsche Location, von offen denkenden Menschen geführt. „Dass einige Teilnehmer überhaupt gekommen sind, ist doch schon mal ein Riesenerfolg“, resümiert eine Teilnehmerin. Und wenn plötzlich drei fein gekleidete Damen der Sangesfreunde Widdersdorf, die sicher schon länger im Rentenalter sind, um Einlass bitten und sich munter unters diskutierende Volk mischen, geht zumindest mir das Herz auf. Oder wenn sich kleine Mädchen so sehr ein Schulkino wünschen, dass sie es aufmalen und schon die Vorführzeiten des Films kennen…
Andere haben sich sofort zum nächsten Treffen verabredet. Markus Rau vom genossenschaftlich organisierten Wohnprojekt „Gut in Widdersdorf“ würde „am liebsten gleich mit irgend etwas Praktischen loslegen, damit was vorwärts geht“, schreibt er mir. Er fand „dieses Brainstorming echt spannend“ und hatte danach zudem noch Kontakt mit zwei der gehörlosen Gäste: „Vielleicht wollen wir uns auch wieder treffen, wie spannend.“
Ich gebe zu: Als ich das Event eröffne und in etwa 70 Gesichter blicke, sehe ich sie: die Skepsis, was „die“ da eigentlich macht. Noch nicht lange wohne ich mit meiner Familie hier im Widdersdorfer Veedel; ich bin neu, ich bin bewusst nicht organisiert. Und ich habe viel gepostet, das gehört zu meinem Job als Bloggerin. Das macht bekannt, aber auch angreifbar: Kann sie beurteilen, was hier los ist, lese ich in manchem Gesicht. Das Gute von neu ist jedoch: Von außen schaue ich anders auf das Geschehen, eben weil ich noch nicht tief drin stecke. Kann Lücken markieren, wo Vernetzung schön wäre. Außerdem sind Newcomer unabhängig – manchem verdächtig, manchem sehr zur Freude.
Viele Nationen, großes Netzwerk
Auch ich freue mich dann, denn die kleine Front löst sich schnell auf. Spätestens, als ich meine Co-Moderatorin Sonja zu mir bitte und sie von ihrem Leben als vierfache Mutter und Geschäftsfrau in Dubai erzählt, merken die Anwesenden:
Die zwei haben sich richtig was dabei gedacht, zu einem World Café einzuladen.
Denn Sonja profitiert bis heute von einem sagenhaften Netzwerk, dass sie einst in den Emiraten, wo sie über 35 Jahre lebte, aufgebaut hat. Und ist es in Widdersdorf, dem größten deutschen Neubaugebiet, nicht ähnlich? Auch hier leben so viele Nationen, die längst nicht nur die Internationale Schule angelockt hat. Und natürlich gibt es einen alten Teil des Dorfes und gleich mehrere neue, die sich peu á peu seit vielen Jahren entwickelt haben. Dass da nicht jeder „Hurra“ schreit, ist normal.
Eine Hommage an Widdersdorf
Doch die meisten, höre ich, leben hier gern; ja, sie lieben ihr Viertel – ohne nach alten klassischen Kriterien verwurzelt zu sein. So nimmt mir beispielsweise eine Frau, die ich aus der Schule meines Sohns kenne, nach meinem Schlusswort das Mikro aus der Hand und „sendet“ eine Hommage an Widdersdorf, garniert mit Ideen für ihr, für unser Veedel. Ein Herzensanliegen. Denn auch sie hat, wie viele Eltern, die mitten in der sog. Rush Hour des Lebens stecken, wenig Zeit und bedauert das sehr. Belustigte Stimmen nennen sie die „Golfplatz-Eltern“ – jene, deren Häuser nahe der Grünanlagen vom Widdersdorfer Golfplatz stehen. Viele Familien wollen und/oder müssen doppelt verdienen – das bedeutet aber nicht, dass sie gemeinschaftliches Engagement nicht schätzen.
Es dürfen sich nur einige mehr kümmern, viele von unterschiedlichen Seiten anstoßen… Wir von ohfamoos sind da gerne behilflich.
Dem World Café voran gegangen war eine längere Diskussion, ausgelöst von Filmen und einem Magazinbericht rund um #heimatland. Im Zentrum der Debatte ging es darum: Was bedeutet heute Heimat? Viel Raum hatten die Journalisten einem in die Jahre gekommenen Widdersdorfer Ehepaar* und deren Freunden gegeben, die gern feucht-fröhlich feiern und meinen, ihre Heimat im Wandel der Zeit verloren zu haben. Eine These der Journalisten war: Wer Fremdes nicht ausreichend kennenlernen konnte, entwickelt schnell Angst. Angst, mit der heute oft unverantwortlich gespielt wird, nicht nur politisch… Viele Widdersdorfer hatten in einem Offenen Brief, von ohfamoos formuliert, ihren Widerstand gegen diese Art der Berichterstattung ausgedrückt, weil sie ihnen zu polarisiert erschien. Unterschiede? Ja! Gräben, gar Spaltung? Nein.
119 Ideen, Wünsche und Anregungen
Diese Berichterstattung ist nun Geschichte. Denn es geht voran. Ganze 119 Ideen, Wünsche und Anregungen kommen im World Café zum Ausdruck. Norbert Ahrends von der Widdersdorfer Interessengemeinschaft erzählt im Nachgang, er habe versucht, alles von den Tischdecken zu notieren, um es bald auf seiner Vorstandssitzung bekannt zu geben. Da geht was! Und seht nur mal, was allein an einem Tisch (es gab 7!) notiert wurde!
Eine Idee, die Janny Groz sogar erst im Nachhinein „gemeldet“ und nachgereicht hat, möchte ich noch stellvertretend für alle guten Ideen nennen. Die Widdersdorfer Autorin schreibt uns und sucht dafür Mitstreiter und AnsprechpartnerInnen: „Im Englischen Garten würde ich gerne ein Widdersdorfer Sonntagspicknick initiieren und organisieren, zu dem jeder seine eigenen Picknicksachen mitbringt und gerne andere von seinen Leckereien probieren lässt – nach dem Motto „Gemeinsam schmeckt’s besser“.
Wir von ohfamoos werden in Kürze zu zwei Terminen einladen, um allen Interessierten die Ideen zu präsentieren. Dann können sich auch diejenigen melden, die bei der Umsetzung helfen wollen. Lasst Euch weiter überraschen, denn auch das ist für uns: #volldasguteleben
Fotos: Wir danken Franziska Kind, die spontan mit ihrer Handy-Kamera solch tolle Bilder zauberte!
* Diesem Paar hatten wir Anfang April einen freundlichen, ausführlichen Brief geschrieben und in den Briefkasten gelegt, um sie kennenzulernen. Leider bis heute unbeantwortet.