Ilka Stitz „Jetzt gehen plötzlich neue Türen auf“
„Fremd ist man auch, wenn man von Hannover nach Köln oder von Sülz nach Widdersdorf zieht“, sagt die Krimiautorin Ilka Stitz, die seit über 30 Jahren im Kölner Westen lebt; damals, erzählt sie im Interview mit Elke in deren Wohnzimmer, gab es hier noch Hasen, „also so richtige“. Aber es war auch nicht alles besser. Wie viele andere Widdersdorfer stört sie die einseitige Berichterstattung von WDR und SZ-Magazin, schaut aber wie die meisten nach vorn: Sie denkt darüber nach, nun einen Kulturpfad und Wohnzimmer-Gespräche in Widdersdorf zu initiieren.
Nach der Berichterstattung #heimatland ist hier ja vieles in Bewegung geraten. Wie erlebst du das?
Ilka Stitz: Mir ist erst mal bewusst geworden, dass es offenbar Bedarf gibt und dass man aus dem, was es ja gibt, auch noch was machen kann. Und dass es Menschen gibt, die sich kümmern – so wie Du ja diese Initiative mit dem Offenen Brief gestartet hast. Ein für mich willkommenes, weil niederschwelliges Angebot sich selbst einzubringen. Ich konnte leicht auf Dich zugehen, was ich sonst nicht immer so mache 🙂
Welchen Bedarf meinst Du konkret?
Eine Ebene zu finden, auf der es möglich ist die Leute hier zu vernetzen; also die Menschen miteinander in Kontakt zu bringen und so ein Kennenlernen zu fördern. Denn durch das riesige Neubaugebiet sind ja auf einen Schlag so viele Menschen hierher gezogen; und auch ich bin ja neu, weil keine Rheinländerin, wenngleich ich schon seit 30 Jahren in Widdersdorf lebe; da habe ich Strukturen vermisst, die es mir als „Immi“ ermöglichten sich zu entfalten – und zwar über die Vereinsstrukturen, die ja manche doch abschrecken, hinaus. Jetzt gehen plötzlich neue Türen auf!
Menschen wie Jörg Jakobs*, den ich in der Diskussion nach #heimatland kennengelernt habe, weisen auf diverse Initiativen hin – sagen aber auch, die Dynamik jetzt sei irgendwie neu. Vielleicht sei die Zeit reif für ein, ich zitiere ihn, „Widdersdorf 2.0.“ Wie siehst du das?
Auf jeden Fall! Natürlich kenne ich die Dorfgemeinschaft, den Karnevalsverein etc. Ich hatte aber nie das Bedürfnis da einzusteigen und tat mich als Hinzugezogene auch nach Jahrzehnten einfach schwer damit.
Was im Film ja auch raus gearbeitet wurde…
Natürlich, aber dieses Phänomen gibt es ja überall.
Und es hat vermutlich auch weniger damit zu tun, das es Menschen aus anderen Ländern und Kulturen sind, oder?
Nein, woher sie kommen, das ist doch völlig egal. Fremd ist man auch, wenn man von Hannover nach Köln oder von Sülz nach Widdersdorf zieht. Das Empfinden von Fremdsein und Nähe entsteht ja aus den Menschen heraus – und da hat der Beitrag viel geleistet, weil die Menschen jetzt bereiter sind, aufeinander zuzugehen, sich kennenzulernen. Wenn man sich kennt, werden die Schwellen niedriger.
Wurden sich Leute vielleicht erst in der Diskussion bewusst, dass sie vielleicht auch ein Schrittchen gehen müssen?
Dass man sensibilisiert wird, sich selbst zu bewegen, genau! Dass man nicht wartet bis etwas passiert. Und manches, was sich bewegt, nimmt man auch gar nicht so wahr. Ich als Nicht-Mutter bemerke zum Beispiel nicht, wenn sich am Fußballplatz, dem Löwi, was verändert. Aber ich kann sehr wohl über meinen Radius hinaus meine Fühler ausstrecken um zu sehen, was es alles an Angeboten gibt, auch wenn sie mich nicht direkt betreffen.
Du lebst drei Jahrzehnte hier vor Ort, wie war es „früher“?
Früher war auch nicht alles super hier. Die Verkehrsanbindung war schon damals schlecht, die Autobahn laut und die Einkaufsmöglichkeiten überschaubar.
Früher war also nicht alles besser?
Natürlich nicht! Es waren ja auch von meiner Seite zumindest Hoffnungen mit dem Neubaugebiet verbunden, dass damit eine bessere Infrastruktur kommt. Wir konnten früher ja schon Wetten darauf abschließen, wie lange sich ein neues Geschäft auf der Hauptstraße halten wird, so oft wie die Betreiber wechselten. Und dann kam die Frage: Würde sich das durch die vielen neuen Einwohner ändern? Der Funke scheint zu den großen Supermärkten übergesprungen zu sein, aber die kleinen haben es weiter schwer. Ebenfalls ein deutschlandweites Phänomen, leider.
Kürzlich gab es ein Treffen hier vor Ort, bei dem sich jede Menge Initiativen vorstellten. Da wurde klar, wie viel es in Widdersdorf gibt und vollkommen unter ging in der Berichterstattung. Aber auch: Wieviel Transparenz noch geschafft werden muss…
Ich bin jetzt nicht der Vereinsmensch, daher kann ich nur wiedergeben, wie es auf mich wirkte und immer noch wirkt. Und da war es früher auch nicht viel anders. Es gab ein paar Vereine und jeder hatte sein Heft. Ich hielt das Heft anfangs immer für eine Art Widdersdorfer Branchenbuch mit Zusatzinformation, das zweimal im Jahr erscheint. Dass es zwei Vereine mit zwei verschiedenen Heften und unterschiedlicher Aufgabenstellung gibt, war mir gar nicht aufgefallen. Ich kannte nur die WIG, und die, so dachte ich, kümmerte sich um Widdersdorfer Interessen. Also um alles.
Und wie ist es wirklich?
Erst sehr viel später erfuhr ich, dass die Dorfgemeinschaft ein eigener Verein ist. Jetzt sind dank des Internets und der sozialen Netzwerke die Kommunikationswege einfacher und schneller geworden. Gleichzeitig aber noch unübersichtlicher. Wenn ich es richtig sehe, gibt es allein bei Facebook drei oder vier verschiedene Widdersdorf-Gruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Welche ist da für mich die richtige Gruppe? Alle? Ich bin schon in so vielen Gruppen … Aber nach dem Treffen neulich ist mir sehr viel klarer geworden, was es alles gibt und wer was macht. Und wieviele interessante Möglichkeiten sich bieten, auch für jemanden wie mich.
Ein einziges Treffen brachte schon Klarheit. Vielleicht wäre das auch ein guter Ansatz für die Kommunikation für alle Vereine und Gruppen? Ein Zugang für alle?
Zurück zur Berichterstattung und seiner Aussage. Siehst Du eine Spaltung zwischen Neu und Alt?
Überhaupt nicht. Als ich hergezogen bin, habe ich natürlich meine Nachbarn näher kennengelernt, und das war es auch schon. Aber mir reichte das an Kontakt. Ich sehe eher eine Spaltung, die durch die immer dagewesene Hauptstraße rein geographisch begründet ist. Dadurch kann künstlich so etwas wie „linksrheinisch“ und „rechtsrheinisch“ entstehen. Es gibt ein Infrastruktur-Problem, denn Widdersdorf ist immer noch schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angebunden und es gibt nur eine kleine Kneipe, keine Möglichkeit für „bürgernahe Veranstaltungen“. Eine Zeitlang gab es ja den Amand-Pavillon, da ließ sich was machen. Möglicherweise gab und gibt es ja andere Räumlichkeiten dafür, aber ich kenne sie nicht. – DA wäre Bedarf, und der ist nicht neu. Seit ich hier wohne, existiert diese Herausforderung.
Lass mich zusammenfassen: Man ist teilweise für sich, weil es, u.a. verkehrstechnisch, an Strukturen fehlt, aber ein Gegeneinandersein verspürst Du mitnichten. Welche Strukturen möchtest Du dennoch einbringen?
Richtig. Und neu verspüre ich das Bedürfnis mich einzubringen und würde mich freuen, wenn jeder das, was er/sie kann, ebenfalls beiträgt. Ich kann halt Kultur, Literatur & Kunst. Da möchte ich mir mehr Gedanken machen, wie man Leute, die sonst nichts miteinander zu tun haben, zusammen bringt; auf einer gemeinsamen Basis, die man hat, z.B. über Bücher oder Kunst.
Konkreter?
Ich denke an einen Kulturpfad Widdersdorf oder an Wohnzimmer-Lesungen. Habe ich bereits erlebt und finde es so schön zwanglos, sowohl für die Gäste als auch für den Autor.
Also die Menschen zueinander führen, indem man bei sich selbst anfängt: Du gibst etwas von Dir, stiftest eine gewisse Unruhe – so dass andere auch etwas geben möchten?
Genau, dass die Leute denken: Ach guck mal, so was kann man machen! Kann ich das nicht auch? Die Bewegung nutzen, die Fluktuation – wie bei einem Bächlein, der in vielen Nebenarmen weiterfließt …
Sehr schönes Bild! Und so machen wir es ja auch, nachdem wir uns über die journalistische Herangehensweise aufgeregt haben – jetzt heißt es gemeinsam nach vorne gucken.
Finde ich auch … nehmen wir noch mal die Hauptstraße durch unser Dorf: Dass sich da rechts und links, drüber und drunter etwas bildet, vernetzt und dann in einen gemeinsamen Widdersdorfer See mündet; wo ganz viel Potential drin ist, was dann an diversen Ufern oder Inseln genutzt wird, wo jeder mit seinem Paddelbötchen hinfährt, ohne dass man da direkt wohnen muss.
Du schreibst schon an Deinem nächsten Krimi….
(lacht) Ja, ja.!! … aber das hat mit Wasser nix zu tun. Obwohl, im Ärmelkanal…
Es geht also, wenn ich Dich richtig verstehe, ums Umgestalten; Altes für Neues nutzen?
Upcycling ist doch so ein so großer Begriff – wir upcyclen hier mal unsere Widdersdorfer Strukturen. Denn hier ist ja alles weder gut noch alles schlecht gewesen. Und schon mal gar nicht existiert ein Alt gegen Neu. Aber das Alte darf sein Blut nicht verlieren und das Neue darf mit Blut gefüllt werden.
Doch ein Krimi (lacht)…
Also, wie im wahren Leben stelle ich mir ein Geben und Nehmen, einen regen Austausch vor. Ein bewegtes Widdersdorf.
Du sagtest eben Kulturpfad – ich bin sicher, mich eingeschlossen, dass viele gar nicht wissen, welche alten Schätze hier liegen!
Eben. Aufgrund meiner literarischen Tätigkeit arbeite ich ja viel zuhause, doch ich weiß, dass es einige Autoren und Künstler hier gibt, die was auf die Beine stellen könnten. Ich denke zum Beispiel an einen Kunstpfad von Garten zu Garten oder eben von Wohnzimmer zu Wohnzimmer…
So wie Du heute hier bei mir bist …
Worüber ich mich auch sehr freue! Darum geht es doch: Mal sehen, wer wo wohnt und hier nicht nur schläft 🙂
Umso spannender wird es am 10. Mai, wenn wir uns treffen! Laden wir also alle ein, die sich z.B. mit Kunst & Kultur beschäftigen.
Gerne! Alle, die Geschichten hören oder schöne Sachen machen oder anschauen wollen. Im weitesten Sinne! Es sollte nicht auf Kultur begrenzt sein, denke ich. Denn man braucht ja überall Publikum und Inputgeber gleichermaßen.

Immer dienstags gibt es im Event-Café ein offenes Schreibcafé, initiiert von Janny Grosz (ganz rechts im Bild). Willkommen ist JEDER!
Sehen wir auch so, sprich: Jede/r Einzelne kann sich am 10. Mai einbringen, wenn wir von ohfamoos ins Event-Café Rhythm & Shake einladen. Dort wird Ilka Stitz ihre Ideen auch zur Sprache bringen, Mitstreiter suchen. Eine ohfamoose Sache!
Ilka Stitz schreibt historische Kriminalromane. Kunst und Literatur waren für die gebürtige Hannoveranerin von Kindesbeinen an die beiden Seiten einer Medaille. „Das eine“, sagt sie, „ist wie Literatur in Farben, das andere Kunst in Worten“. Ihre Inspirationsquelle: Fundstücke aus der Natur oder dem Alltag. Betrachte man sie nur genau, entfalte sich ihr merkwürdiger Zauber. Gemeinsam mit Karola Hagemann veröffentlichte sie als Hagemann & Stitz und unter dem Pseudonym „Malachy Hyde“ historische Romane. Seit 2010 schreibt sie in Eigenregie. Ilka Stitz studierte Kunstgeschichte, Germanistik und klassische Archäologie in Göttingen und Köln. Mehr unter: www.ilkastitz.de
* Joerg Jakobs ist der Initiator von „Widdersdorf hilft“, einer Plattform zur Nachbarschaftshilfe.
Fotos: Unsplash; Elke Tonscheidt