Lich tobt
Ein Beitrag von Elke über ihren Kölner Stadtteil heißt „Widdersdorf tobt“. Getobt wird derzeit auch in Lich, meiner Heimatgemeinde, aber aus einem anderen Grund. Nicht ein Fernsehbeitrag liefert den Anstoß zum Unmut, sondern das Handeln der Kommunalpolitiker im Stadtparlament.
Lich, das beschauliche mittel-hessisches Städtchen mit dem Motto „im Herzen der Natur“, ist seit Monaten in Aufruhr. Ein geplantes Logistikzentrum, größer als zwei Commerzbank-Arenen, spaltet die knapp 14.000 Bürger*innen der Kleinstadt. Als PR-Tante beobachte ich die Berichterstattung und kann nicht fassen, was da passiert.
Aber zum Anfang: Im November 2018 gibt der Immobilienentwickler Dietz bekannt, dass er 21 ha Land für ein Bauprojekt von der Stadt Lich erworben hat. Dem Investor schwebt ein Industrie- und Logistikpark vor, der sowohl internationale als auch regionale Unternehmen bedienen kann.
Großprojekt für Lich
„Wir sind vom Bürgermeister, dem Magistrat und dem Bauausschuss mit offenen Armen empfangen worden und freuen uns sehr über die zielorientierte, professionelle und wertschätzende Zusammenarbeit als Investor und Partner des Gewerbegebietes“, lobt Dietz-Vorstand Markus Engelmann die Stadt Lich in der ‚Immobilien Zeitung‘. Die Dietz AG hat das Areal im Südosten der Stadt für 25 Euro/qm gekauft.
Tolle Sache, dachte ich – in der Annahme, das geplante Projekt sei wohlbekannt und generell in der Licher Bevölkerung als Arbeitsstellen fördernd angenommen. Sicher auch für die kommunalen Kassen reizvoll, so dachte ich.
Doch weit gefehlt, denn: Als die ersten Zeitungsartikel mit einem Modell der Bebauung in der lokalen Presse erscheinen, wird vielen Bürgern klar, welch ein Monstrum auf der grünen Wiese im Herzen der Natur entstehen soll.
Es gründet sich eine Bürgerinitiative gegen das geplante Logistikzentrum. Der Verein „Bürger für ein lebenswertes Lich e.V.“, setzt sich für eine nachhaltigere Bebauung des Gebiets ein. Denn, so argumentiert der Verein, durch die Verkehrs-, Lärm-, und Abgasbelastung (1200 LKWs pro Tag!) werde die Lebensqualität der Bürger stark eingeschränkt, Staus wären vorprogrammiert und man befürchtet großen ökologischen Schaden: Von einem massiven Anstieg der CO2-Werte und Feinstaubbelastung innerhalb der Stadt Lich ist die Rede.
Ein Jahr später, im Oktober 2019, gibt es in Lich mehr und mehr Kontroversen.
Laut Recherche des Licher Vereins sei der Kaufvertrag nicht gültig, ein rechtskräftiger städtebaulicher Vertrag soll fehlen und Umweltaspekte seien nicht verfolgt worden.
Bürgerbegehren in Lich
Der Verein bewegt, organisiert Proteste, erstellt Banner, sammelt Unterschriften und zieht vor Gericht, um einen Baustopp und ein Bürgerbegehren zu erwirken. Die Ungereimtheiten nehmen zu und Leserbriefe besorgter Bürger*innen sind an der Tagesordnung.
„Der Zusammenhalt in der Stadt Lich hat stark darunter gelitten. Das geplante Logistikzentrum darf nicht über dem Wohl der Bewohner von Lich stehen – die Interessen von Lich und den Bürgern müssen oberste Priorität haben. Und was ist eigentlich aus dem Leitbild der Stadt Lich geworden? Geopfert für den Profit des Investors?“ schreibt eine Licherin im lokalen Wochenblatt.
Den Tiefpunkt erreicht das Debakel, als der Bürgermeister der Stadt Lich sich an die Medien wendet, weil er einen anonymen Drohbrief erhalten habe und sein Vorgarten verwüstet wurde. „Er habe die Polizei eingeschaltet und der Staatsschutz ermittelt“, berichtet der Gießener Anzeiger.
Wo bleibt die Transparenz?
Ich bin fassungslos, angesichts der Tatsache, wie wenig Transparenz und Dialogbereitschaft es seitens des Magistrats und des Bürgermeisters gibt und ein Aufeinanderzugehen kaum möglich erscheint. Der Graben zwischen den Fronten wird durch die Opferrolle des Bürgermeisters, als Empfänger des anonymen Drohbriefs, noch weiter geschürt.
Bürger wollen gehört werden.
Das hat man mittlerweile auch schon auf EU Ebene festgestellt. So will die Europäische Union zwei Jahre lang intensiv prüfen, wie sie demokratischer werden kann. Zuhören wäre eine Option. In vielen Kommunen setzt man auf Bürgerbeteiligungskonzepte, um Bürger aktiv in Entscheidungen einzubinden. Warum nicht in Lich, meiner Heimatgemeinde?
Wie geht es in Lich weiter?
Auch in Lich entstehen nun parteilose Vereine. Ähnlich der Fridays for Future-Bewegung sieht sich der Verein „Bürger für ein lebenswertes Lich“. Eine andere Gruppe engagierter Bürger*innen hat sich schon vor einigen Jahren zur „Demokratischen Bürgerliste Lich“ zusammengeschlossen und sich bei der Kommunalwahl 2016 einen Platz im Stadtparlament gesichert. Seit vergangenem Freitag organisieren sie Bürgergespräche in allen Stadtteilen, um sich die Belange der Bürger anzuhören. Hoffnung liegt auch auf dem neuen, jungen Bürgermeister (SPD) der Stadt, der seit dem 15. Januar das Amt begleitet. Er hatte sich noch während seines Wahlkampfs für ein Bürgerbeteiligungskonzept ausgesprochen.
Persönlich hoffe ich auf mehr Engagement und Mut aller Menschen, nicht nur der Bürger*innen in Lich. So schreibt auch der Schriftsteller und Umweltaktivist Jörg Sommer auf seinem Blog Demokratie.plus: „Wer Verfahren beschleunigen will, der darf nicht an der Demokratie sparen. Er muss mehr beteiligen, er muss früher beteiligen, er muss besser beteiligen, als es bislang die Regel ist.“
Ich werde mich weiterhin in Lich engagieren und die Entwicklung der Kommunalpolitik verfolgen. Mein Lektürevorschlag für alle Kommunalpolitiker wäre unterdessen Jörg Sommers ohfamooses „Kursbuch Bürgerbeteiligung“ – für mehr #Miteinander und #volldasguteleben!
Fotos: Sonja Ohly, Martina Ohly, BFL