Corona: „Offizielle Annahmen nicht alternativlos“
Gastautor Martin Reents fragt sich seit Wochen: Warum geben die Experten keine Vorhersagen über die Entwicklung der Corona-Fallzahlen ab? Vielleicht fragt Ihr Euch das auch. Ohfamoos bringt heute die Berechnungen des Miesbacher Mathematikers, inklusive seiner alternativen Annahmen, die sowohl Erstaunliches hervorrufen als sich auch mit dem „Primat der Medizin“ beschäftigen. Seine These: „Wer sich nur noch mit Krankheit und Tod beschäftigt, der reduziert den Menschen auf einen Apparat, der nicht kaputtgehen darf und funktionieren soll.“ Hier Martins Erläuterungen im Wortlaut.
Das Prinzip empirischer Wissenschaft ist schnell erklärt: Man stellt eine Theorie auf, leitet daraus eine Vorhersage ab und überprüft, ob die zutrifft. Warum macht das derzeit keiner? Stattdessen gibt es nur Aussagen wie: „Die Ruhe vor dem Sturm“ oder „Wir müssen die Kurve abflachen“ oder „Wir leben weiter in der Pandemie.“ Das sind nicht-widerlegbare Sätze, ähnlich einem Horoskop. Und sie sind wertlos.
Also habe ich mir meine eigenen Rechnungen weiter angeschaut. Ich hatte ein Pandemie-Modell entwickelt, das die allgemein üblichen Differentialgleichungen nutzt, und ich hatte die bis heute „offiziellen“ Basisparameter verwendet:
- Basisreproduktionsrate R0 = 3,8 (die Ansteckungsquote)
- Mortalitätsrate = 1%
- Patient 0 in Deutschland am 28. Januar 2020 (bei überschaubarer Dunkelziffer)
Ich war sehr überrascht: Bis zum 18. März (da hatte ich die Modellrechnungen gemacht) hat das Modell die Entwicklung der Fallzahlen und der Todesfälle sehr gut nachgezeichnet. Und wenn das so weitergehen würde, dann müssten wir mit 800.000 Opfern rechnen. Da war natürlich jede Maßnahme gerechtfertigt. Das war der Grundtenor meiner ersten Berechnung, und das scheint mir auch heute noch richtig.
Und heute? Natürlich sind rückwärts gewandte Analysen interessant und hinterher ist jeder schlauer. Wissenschaftlich gesehen sind sie jedoch wertlos.
Deshalb habe ich mit dem gleichen Modell und den gleichen Zahlen die erwartete Entwicklung für die folgenden 14 Tage errechnet. Und ich war wieder überrascht.
Die tatsächliche Anzahl der Infizierten (rote Linie; RKI-Zahlen) stieg viel schneller als in meinen Vorhersagen (gelber Korridor):
Ich habe das Modell in den nächsten Tagen immer wieder nachkalibriert. Und immer wieder lagen meine Vorhersagen für die folgenden Tagen weit unter den tatsächlich gemeldeten Fällen.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass es den Experten genauso ging wie mir. Ein Beleg dafür ist, dass ihre langfristigen Aussagen sich mit meinen ursprünglichen Berechnungen decken („insgesamt könnten 400-800 Tausend Deutsche an COVID-19 sterben“). Aber das ist „langfristig“ und also zunächst auch wieder nicht überprüfbar.
Vermutlich tappen die Experten vollkommen im Dunkeln und haben einfach Angst, ihren Job zu verlieren. Jedenfalls tun sie nicht das, was jeder Wissenschaftler tun würde: Aus seinen Theorien überprüfbare Vorhersagen ableiten.
Nach einigen Tagen habe ich die offiziellen Basisparameter aufgegeben und mit anderen Annahmen experimentiert. Was man in den Griff kriegen muss, ist das schnelle Wachstum in der zweiten Märzhälfte. Das ist nämlich kein exponentielles, sondern lineares Wachstum. Klingt komisch?
Nun, das Besondere an exponentiell ist, dass es am Anfang sehr langsam ist (der gelbe Korridor) und dann irgendwann rapide ansteigt. Bei der roten Kurve ist das Wachstum aber von Anfang an sehr hoch, und das ist dann eher linear. Das Wachstum sollte aber nach dem gängigen Pandemie-Modell exponentiell sein. Dafür muss man andere Basisannahmen verwenden.
Mein bestes Modell ist folgendes:
- Basisreproduktionsrate R0 = 7,3 (eine super-hohe Ansteckungsquote, viel höher als die offiziellen 3,8)
- Mortalitätsrate =0,03% (viel niedriger als offiziell angenommen; aber die offiziellen Annahmen errechnen sich im Wesentlichen aus den sehr limitierten Daten des Kreuzfahrtschiffes MS Princess Diamond)
- Patient 0 in Deutschland Ende 2019 (das impliziert eine hohe Dunkelziffer: auf einen gemeldeten Infizierten kommen 20 nicht-gemeldete)
Seit 1. April, also inzwischen über mehrere Tage hinweg, ist mein Prognosefehler kleiner als 0,5%. Man sieht das an den Kurven deutlich: die rote Ist-Kurve liegt voll im gelben Prognose-Korridor.
Das hat erhebliche Konsequenzen:
Folgt man den „offiziellen“ Basisannahmen, dann breitet sich die Krankheit langsam aus. Dann sind derzeit nicht einmal 1 Million Deutsche infiziert. Wenn wir jetzt die Ausbreitung stoppen, dann stehen wir eigentlich so da, wie vor der Seuche: Fast keiner ist immunisiert, und sobald wir uns wieder auf die Straße begeben, geht es wieder genauso los wie Anfang März. Es würde noch etwa 2 Jahre dauern, bis wir uns wieder normal verhalten könnten. Bis dahin wären 400 – 800 Tausend Menschen in Deutschland gestorben.
Meine alternativen Annahmen zeichnen ein ganz anderes Bild!
Danach wären schon jetzt 30-50 Millionen Deutsche infiziert, davon 1/3 gesundet, 1/3 infiziert und 1/3 in der Inkubationsphase. Ostern wären wir (was die Infektionen angeht; siehe Bild unten) über den Berg und ab Mitte Mai würden auch kaum noch neue Todesfälle hinzukommen. Insgesamt hätten wir 20 bis 30 Tausend Opfer zu beklagen. Zum Vergleich: Das Deutsche Ärzteblatt berichtet, die „außergewöhnlich starke Grippewelle habe 2017/18 nach Schätzungen rund 25.100 Menschen in Deutschland das Leben gekostet.“
Nach diesem Alternativmodell könnten wir jetzt sogar schon wieder auf normales Leben umschalten. Die Grundimmunisierung in der Bevölkerung ist schon da.
Das Alternativmodell umschreibt sich so: COVID-19 ist hochansteckend (das erinnert an Masern mit einer Ansteckungsquote R0=15), aber selten tödlich. Insgesamt müsste man „nur“ mit den üblichen Opfern saisonaler Atemwegserkrankungen rechnen. Aber die Erkrankungen (und Todesfälle) treten innerhalb so kurzer Zeit auf, dass es das Gesundheitssystem total überfordert. „Flaten the curve“ wäre also auch in dem Modell richtig gewesen und verantwortlich dafür, dass wir in Deutschland hoffentlich glimpflicher davonkommen als die Lombardei.
Ich frage meinen Freund Martin noch Folgendes:
Martin, woher nimmst Du die Gewissheit, dass Dein Alternativmodell richtig ist?
Eine Gewissheit habe ich gar nicht. Und sicher gibt es auch noch andere Möglichkeiten. Auch behaupte ich nicht, dass die Annahmen meines Alternativmodells richtiger sind als die „offiziellen“ Annahmen. Ich wollte jedoch vor allem zeigen, dass die offiziellen Annahmen nicht alternativlos sind. Ja, leider sogar ziemlich schlecht sind.
Was beklagst Du ganz besonders?
Dreierlei: Erstens, dass die Experten keine Vorhersagen veröffentlichen, die man überprüfen kann. Das ist unwissenschaftlich und grenzt an Horoskop-Lesen im Mittelalter. Zweitens, dass wir so gut wie keine repräsentativen Tests machen, um die Dunkelziffer zu ermitteln. Stichproben sind löblich, reichen aber bei weitem nicht aus. Drittens, das angeblich alternativlose (und deshalb nicht diskutierte) Primat der Medizin.
Das ist für mich zutiefst undemokratisch.
Für mich ist klar: Wer sich nur noch mit Krankheit und Tod beschäftigt, der reduziert den Menschen auf einen Apparat, der nicht kaputtgehen darf und funktionieren soll…
Und dann sagt Martin noch etwas, was wir zusammen auf unserer 2. Ohfamoosen Unkonferenz in Essen hörten, im November 2019. Da sagte Sonjas Nichte, Mascha Ohly, etwas, was besonders den älteren Teilnehmern der Unkonferenz große Ohren machte. Wünschte sich die heute 20jährige doch – thematisch ging es um die Klimadebatte und was wir als Bürger und Staat tun können – eine „wohlmeinende Diktatur“.
Dazu Martin Reents heute: „So fühlt sich das für mich derzeit an. Nur, dass ich mir das nicht wünsche. Und bewusst zitiere ich abschließend Thomas Mann, aus: Der Zauberberg: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
Martin Reents, gebürtig aus Ostfriesland und Wahl-Bayer, war Unternehmensberater bei McKinsey. Er liest und liebt Bücher sehr – zu Beginn der Corona-Krise hat er den Zauberberg von Thomas Mann wieder hervorgeholt. Seitdem stöbert er erneut in diesem dicken Wälzer – weil ihn „unser fatalistischer Umgang mit der Krankheit so sehr an die Bewohner des Lungensanatoriums in Davos erinnert“ … Martin gehört zu den ohfamoosen Gastautoren, mehr über diese Autoren auf ohfamoos.
Auch eine interessante Lektüre: Das Interview, das ein anderer Gastautor von ohfamoos, Dr. Uwe Alschner, mit diesem Mann geführt hat: Knut M. Wittkowski, Professor für Epidemiologie und Biostatistik an der Rockefeller University in New York. Der Experte für das Modelling von Epidemien untermauert in dem Gespräch seine These, dass die gegenwärtige Corona.Epidemie ihren Höhepunkt bereits überschritten habe. Mehr noch, am Ende ruft er dazu auf, sich an Goethes Osterspaziergang zu erinnern und in die Natur zu gehen:
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Grafiken: Martin Reents
Foto: Unsplash