Grundeinkommen – Zeit für ein soziales Experiment?
Das Thema Grundeinkommen gehört zu denen, die wir auf ohfamoos nicht zum 1. Mal zu Gehör bringen. Sonja setzt sich seit geraumer Zeit dafür ein, das – was in anderen Ländern viel stärker thematisiert wird – auch in Deutschland zu berücksichtigen. Und sie fragt heute ganz konkret: Ist die Corona-Krise nicht eine gute Zeit für ein soziales Experiment?
Gestern erreicht mich eine E-Mail meines Steuerberaters mit dem Wortlaut: „Wir haben ihnen in der Anlage die Ausfüllhilfe für den Antrag auf Soforthilfe beigefügt. Sofern Sie erwägen, einen Antrag zu stellen, bitten wir Sie, sich diese Unterlagen genau anzusehen. Es sind voraussichtlich eidesstattliche Versicherungen abzugeben! Weiterhin sollen nach unserem Kenntnisstand die Unterlagen zum Zuschuss im nächsten Jahr der Steuererklärung beigefügt werden. Zu erwähnen ist auch, dass der Zuschuss steuerpflichtig sein wird.“
Ferner erfahre ich: Es wird erwartet, dass es bei der Beantragung zu Server-Problemen kommen kann. Es wird empfohlen zunächst alles bereit zu legen, so dass der Antrag „in einem Zug“ möglichst „Online“ gestellt werden kann.
Antrag bevorzugt online
Oh, denke ich. Und das in Deutschland, der ältesten Bevölkerung in Europa und der zweitältesten der Welt – laut Wikipedia war 2009 jeder fünfte Mensch in Deutschland 65 Jahre und älter. Wie werden die denn alle mit den online Anträgen zurechtkommen? Mein nächster Gedanke richtet sich an den riesigen Verwaltungsapparat, der da gerade anläuft. Und ich frage mich nicht das 1. Mal:
Wäre denn ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht viel einfacher?
Ich hatte dazu schon einmal einen Beitrag auf ohfamoos zum Thema Grundeinkommen veröffentlicht. Die Frage, die ich schon 2018 stellte, erscheint mir wieder aktuell: „Viele, insbesondere ältere Menschen, nehmen Sozialleistungen, die ihnen rechtmäßig zustehen, aus Scham oder Stolz gar nicht erst in Anspruch. Könnte man hier nicht einen Test mit ausgesuchten Rentnern in Deutschland lancieren?“
Neue Perspektive
Ich hatte auf einen Perspektivwechsel seitens der Regierung gehofft. Und gerade in einer Corona-Krise, wäre Menschen doch sehr geholfen, wenn sie sich bei Ausgangssperre, Einnahmeausfällen oder Kurzarbeit, keine Gedanken um eine Grundsicherung machen müssten.
Ich bin nicht alleine mit meinen Gedanken. Zum Beispiel äußert sich Beispiel Georg Schürmann auf Business Insider. Schürmann ist Geschäftsleiter Deutschland bei der Triodos Bank, ein niederländisches Kreditinstitut, das mit den Einlagen ihrer Kunden Projekte und Unternehmen mit sozialem, ökologischem oder kulturellem Mehrwert unterstützen möchte. Er hält ein Grundeinkommen bei steigender Arbeitslosigkeit für sinnvoll. Die Bundesregierung habe zwar ein gigantisches Maßnahmenpaket mit einer großen Anzahl von Maßnahmen verabschiedet, schreibt er in einem Statement. Allerdings sei die Umsetzung „uneinheitlich und teils zu demokratisch“. Betroffene Familien oder Privatpersonen würden bei den Maßnahmen teilweise noch gar nicht berücksichtigt. Daher fordert er einen weiteren Schritt der Bundesregierung.
Neue Maßnahmen umsetzen
„Jetzt wäre eine ideale Möglichkeit, um die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in die Tat umzusetzen. Durch eine nachgelagerte Versteuerung könnte man sicherstellen, dass Menschen mit höheren Einkommen über die Einkommensteuer Teile davon wieder zurückzahlen.“ Er sei davon überzeugt, „dass auf diese Weise viel unkomplizierter und sozialer gerechter eine Unterstützung der Bevölkerung und der Wirtschaft geleistet werden kann“. (Quelle: Business Insider)
Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland, meldet sich auf Business Insider auch zu Wort: „Tatsächlich könnte in der aktuellen Krise Sinn ergeben, das bedingungslose Grundeinkommen zeitweise einzuführen. Kommt es zu einer stark steigenden Arbeitslosigkeit oder einer massiven Ausweitung der Kurzarbeit, könnte das Grundeinkommen das richtige Instrument in der Krise sein“, sagt er im Gespräch mit Business Insider.
Petition zum Grundeinkommen
Auch selbstständige Personen melden sich dieser Tage zu Wort. Eine Petition der Modedesignerin Tonia Merz haben inzwischen (Stand 5.4.20) mehr als 441.000 Menschen unterzeichnet. Ihre Forderung: Sechs Monate lang 800 bis 1.200 Euro für alle, die durch die Krise jetzt plötzlich vor dem Aus stehen.
Und auch Politiker finden die Idee offenbar für umsetzbar, so outete sich die Linke-Chefin Katja Kipping im Nachrichtenportal „Watson“ als „großer Fan“ dieser Idee. Die aktuelle Krise zeige, wie schnell man seine Einkommensquelle verlieren könne. „Wir brauchen deshalb eine materielle Grundlage für alle in der Gesellschaft, auf der jeder stehen kann.“
Und auf NTV finde ich die Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Civey. Als ich an der Umfrage teilnehme, sehe ich, dass über 40 Prozent der Befragten für die Einführung eines befristeten Grundeinkommens stimmen, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise abzufedern.
Was wir dringend brauchen, sind soziale Innovationen.
Das sagt der Zukunftsforscher Andreas Reiter. Er hält das bedingungslose Grundeinkommen, für das Gebot der Stunde. „Statt ein Hilfspaket nach dem anderen zu schnüren, wäre es zielführender, jeder und jedem ein monatliches Fixum zukommen zu lassen,“ erklärt er im Standard, der österreichischen Tageszeitung. Er glaubt, das bedingungslose Grundeinkommen wäre eine gute Möglichkeit, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken und Menschen würdevoll durch diese schwierige Zeit zu bringen.
Alles ist möglich
Meine Meinung dazu ist glasklar: Wir haben seit dem Beginn der Corona-Krise viele Dinge erlebt, die wir nie für möglich gehalten haben. Schulen und Kitas, Geschäfte und Restaurants wurden einfach geschlossen, Ausgangsbeschränkungen verhängt. All das wurde in kürzester Zeit umgesetzt.
Vielleicht ist die Corona-Krise ja auch der Startschuss für ein soziales Experiment?
Wer hat in der Politik den Mut hier voranzugehen?
Mehr Informationen zu den Positionen der Parteien findet Ihr hier
Foto: Sonja Ohly