Ein Schuh wie eine zweite Haut
Besonders biegsame Minimalschuhe mit hauchdünner Einlege- und flexibler Laufsohle, Obermaterial aus Naturstoff, handgefertigt in Europa. So etwas gibt es? Ich habe mit der Schuh-Unternehmerin Anna Yona über die von Wildling Shoes bereits 2016 via Online-Shop auf den Markt gebrachten Schuhe gesprochen – ein Schuhkonzept, das von der Passform, über die Materialien bis hin zur Sohle ein komplett neues Konzept bietet. Anna und ich waren zusammen spazieren; dabei hat sie mir erzählt, wie ihr online funktionierendes Unternehmen gerade jetzt in der Krise agiert. Gelernt habe ich zudem über Bewegungsfreiheit, nicht nur am Fuß 🙂
Ein Stück Freiheit an den Füßen – das zu bieten, war das Ziel von Anna und ihrem Ehemann Ran Yona, als sie 2015 ihr Startup gründeten. Hatten sie doch genau das in Israel, wo ihre Kinder viel barfuß laufen konnten, so geschätzt; und zurück in Deutschland schmerzlich vermisst. Ihr Schuhkonzept: ein Minimalschuh, der Kinder- und Erwachsenenfüße so ungestört wie möglich lässt und wie eine zweite Haut fungiert. Fast wie Barfußlaufen eben.
2019 verkaufte Wildling 150.000 Paar Schuhe. Vertrieben werden die Wildling-Kollektionen weiter ausschließlich über den eigenen Online-Shop. Anprobieren ist nur möglich in den beiden Showrooms in Köln und Berlin, die Anfang Juni wieder öffnen werden, sowie im Lagerstore in Engelskirchen – Annas Heimat. Dort treffe ich die fröhliche, unkomplizierte Anna auf einen Spaziergang durch die Felder. Mitten in einem oberbergischen Wäldchen machen wir Rast, zeichnen im Halbschatten unser Interview auf.
Das Interview
Anna, wir haben uns 2015 kennengelernt – damals warst Du voller wilder Pläne für Euer heute so erfolgreiches Schuh-Business. Fünf Jahre später, im „Corona-Zeitalter“, steht vieles wieder Kopf, oder?
Ja, auf jeden Fall, es hat einmal das Rad komplett angehalten, wir haben sozusagen einen Stock in die Speichen bekommen, mussten einiges neu überdenken. Irgendwie auch eine gute Übung, denn wir wurden fast überrollt von der Nachfrage, die seit der Gründung einen ziemlichen „Wachstums-Wahnsinn“ angeschoben hat. Eigentlich sind wir nur so mitgelaufen, auch wenn es besser wurde in den letzten Jahren…
Was hat sich dadurch verändert?
Es ist eine Übung in Fokus, was ist wirklich wichtig, was wollen wir in jedem Fall weitermachen, was braucht man eventuell nicht. Leider müssen wir da auch schöne Dinge auf Eis legen, es trennt sich also nicht nur die Spreu vom Weizen…
Zum Beispiel?
Viele Themen, die mit einem Engagement außerhalb von Wildling zu tun haben. Zum Beispiel sich für Umweltprojekte zu engagieren oder Projekte, die wir mit Künstlern umsetzen wollten. Wir hatten z.B. vor ein Renaturierungsprojekt aktiv zu begleiten – mit finanzieller und tatkräftiger Unterstützung in Form von Corporate Volunteering. Und ein Musikprojekt hätte uns quer durch Europa geführt. Jetzt setzen wir immerhin eine kleine Fuchs-Auswilderungsaktion und eine verschlankte Version des Musikprojekts um. Die Wildling Soundbox konnte starten und sammelt Geräusche, die uns an Freiheit erinnern – passend auch zu dieser Zeit, wo Freiheit nochmal eine neue Bedeutung bekommt.
In vielen Unternehmen geht es momentan darum, eine neue Balance herzustellen, sich neu zu fokussieren. Als Unternehmen, das komplett online funktioniert, habt Ihr viele Vorteile gehabt im Gegensatz zu Firmen, die z.B. erst lernen müssen umfassend online zu kommunizieren. Wie habe ich mir das bei Wildling vorzustellen?
Wir sind mittlerweile ein Team von 137 Leuten, ca. 100 davon arbeiten immer aus dem Home-Office. Wir sind als Team komplett gewöhnt remote zu arbeiten. Über Distanz Nähe zu schaffen, das ist Kern unserer Unternehmenskultur.
Das ist sicher Riesenvorteil jetzt, oder?
Und wie. Ich weiß ja, wie lange es gebraucht hat, das gut aufzubauen – die Vorstellung, wir wären von heute auf morgen aus einem Büro mit all den Offline-Strukturen in so ein Set-Up geworfen worden, das wäre eine extreme Übung gewesen… Aber obwohl wir virtuell gut aufgestellt sind, spüren wir natürlich dennoch die besondere Situation – jede und jeder ist mal mehr, mal weniger von der Krise beeinflusst, macht sich Sorgen etc. Wir haben sehr viele jungen Familien im Team, die plötzlich ihre Kinder ganztägig betreuen und homeschoolen müssen. Zur äußeren Belastung kommt das Multitasking hinzu. Wir merken das auch bei uns im Team deutlich und da kann man nur sagen:
Habt keine Angst auszusprechen, wenn Ihr gerade nicht könnt.
Habt keine Sorge, wenn ihr sagen müsst: Ich schaffe das gerade nicht so gut, wie ich möchte.
Das habt Ihr bewusst so kommuniziert?
Ja, wir wollen aufeinander Rücksicht nehmen. Es ist wichtig, gemeinsam gut durchzukommen. Wir dürfen unser Team jetzt nicht routieren lassen, sehen die teilweise sehr speziellen Situationen, z.B. von Alleinerziehenden mit mehreren Kindern in einer Wohnung. Das ist richtig hart. Da muss man als Unternehmen sagen: Welche Ziele sind einerseits wirklich wichtig, worauf müssen wir achten, um am Ende die Gehälter zu zahlen; andererseits entscheiden, wo können wir gerade sagen: „Lass da mal auf kleiner Flamme kochen, dort müssen wir zurückstecken.“
Wildling und die Mitarbeiter*innen
Dass Ihr das proaktiv macht, finde ich beeindruckend…
Wir haben wirklich tolle Mitarbeitende, u.a. ein People und Culture Team, das sich gezielt Zeit nimmt, um so etwas gut durchzusprechen. Das Schlimmste, was man jetzt machen kann, ist nicht offen zu kommunizieren. Dann entsteht Angst, dann vermutet man etwas im Busch. Deshalb erklären wir genau, wo das Unternehmen steht, wo gibt es einen Umsatzeinbruch, wie viele Kosten konnten wir wo einsparen etc.
Es ist immer viel einfacher mit einer Situation umzugehen, wenn man versteht, was passiert.
Würdest Du Dich als besonders mutigen Menschen bezeichnen?
Nein, nicht als besonders mutig, aber ich habe es geschafft, mir eine gesunde Naivität zu erhalten, die es mir erlaubt, Dinge zu tun ohne zu weit zu denken. Eine Erfahrung meiner vielen Reisen ist zudem: Es geht immer irgendwie weiter. Wenn etwas nicht funktioniert, öffnet sich eine andere Tür. Eigentlich wird es nie so schlimm, dass am Ende gar nichts mehr geht. Meine Herangehensweise ist, dann andere Lösungen zu finden. Mein Ziel in der Ferne ist klar, aber ich muss nicht alles im Voraus wissen und planen. Ich laufe jetzt so weit, wie ich sehen kann, und dann schaue ich weiter. Mein Weg ist ein schrittweises Vorangehen – ohne das Gefühl zu haben zu weit springen oder zu viel tragen zu müssen. Ich würde das nicht als Mut bezeichnen, vielleicht ist ein besseres Wort dafür (sie überlegt)… Zuversicht. Wenn man daran glaubt, es wird schon gut.
Vielleicht ist es mutig, sich an Weggabelungen auf seine Intuition zu verlassen, um so herauszufinden, was richtig ist?
Ja, da ist viel Intuition dabei, sich und seinen Entscheidungen zu vertrauen und sich nicht zermürben zu lassen. Nicht immer zurückzugucken und zu sagen: Hätte ich vielleicht doch lieber … Es ist hilfreich, auf so etwas nicht viel Energie zu verschwenden.
Was wolltest Du vor Wildling machen? Welche Vision hattest Du früher?
Ich wäre gerne Journalistin geworden. Das war auch der Grund, dass ich in Israel Nahostgeschichte studiert habe, sozusagen als Grundlage. Ich habe dann, im Nebenjob –unsere Kinder waren ja klein – Marketing/Übersetzung gemacht. Es ist ein absoluter Zufall, dass wir bei dem gelandet sind, was wir jetzt machen. Ein Unternehmen zu gründen, war nie meine Vorstellung. Ich bin da echt in meinen Traumjob reingestolpert. Als Berufsmöglichkeit sollte Gründen jungen Menschen viel bewusster sein, denn es ist ein unglaublich kreativer Beruf und man muss dafür nicht unbedingt BWL studieren.
Manche sagen, dass allein die Tatsache, ein Unternehmen zusammen mit seinem Lebenspartner zu gründen, schon wahnsinnig mutig sei. Du gibst ja selbst Tipps dafür, wie das klappen kann. Kannst Du grundsätzlich dazu raten?
Es ist unglaublich toll, mit einem Partner oder Freund – also mit Leuten, die man sehr gut kennt – etwas zu gründen, weil man ähnliche Wertvorstellungen hat. Bei uns waren die Ideale und das Ziel die gleichen. Da hatten wir nie Probleme, da waren wir auch unausgesprochen einer Meinung, was es leicht gemacht hat. Schwieriger ist es, auch als Paar immer wieder die Grenzen zu ziehen. Und man muss aufpassen, weil man mit seinem Partner natürlich anders umgeht als mit Arbeitskollegen. Man ist vielleicht ungeduldiger oder sagt etwas, was einem hinterher leidtut. Man muss sich bewusst sein, in eine Rolle zu schlüpfen, die da lautet: Wir arbeiten jetzt zusammen.
Ihr unterscheidet Euch auch dadurch, dass Wildling keine klassische Werbung macht, sondern viel über die sozialen Netzwerke steuert und Ihr dort eine große Community aufgebaut habt. Habt Ihr da etwas Neues vor?
Wir haben selten einen Masterplan und entdecken häufig eher zufällig, dass das, was wir intuitiv machen, in der Marketingwelt plötzlich einen Namen bekommt – beispielsweise Drop-Marketing, also immer wieder neue Produkte zu launchen. Das ist bei uns einfach so aus der Interaktion mit unserer Community entstanden, und da wollen wir auf jeden Fall noch viel mehr gemeinsam mit unserer Kundschaft machen. Unser großer Fokus von Anfang an ist immer gewesen: Es geht um das WIR, nicht um „Wir als Marke Wildling“ und „Ihr, die Kunden“, sondern: Wir – Community und Wildling – machen das zusammen.
So haben wir Wildling mit einer Crowdfunding-Kampagne gelauncht und unsere Schuhe verkaufen sich in erster Linie durch Weiterempfehlung. Wir machen ja super wenig klassische Werbung, eigentlich gar keine. Dass wir so gewachsen sind, liegt v.a. daran, dass es so viele Leute gibt, die von diesen Schuhen erzählen und die Geschichten für uns weiter tragen. Das ist der große, große Fokus – der Aufbau und die Pflege dieser Beziehungen.
Deine Hoffnung ist ja, dass Corona unsere Ellbogen-Mentalität verändert – siehst Du das immer noch so?
Mit Corona erleben wir die erste Krise, in der wir als Menschheit alle zusammen drin stecken. Es ist keine Kriegssituation, in der es einem Land wahnsinnig schlecht geht und man hat ein klares Feindbild und eindeutig Verantwortliche; es betrifft nicht nur die arme oder nur die reiche Welt, sondern wir sind alle betroffen. Das schafft ein unglaubliches Gefühl von „gemeinsam in einem Boot“.
Eine Art Verbundenheit?
Ja, weil alle es auf ähnliche Weise erleben und das schafft eine Brücke: Wir durchleben alle das Gleiche, wir sind alle verantwortlich uns gegenseitig zu schützen, vor allem die Risikogruppen. Also es geht nicht darum, dass eine Gruppe gegen die andere ist, sondern es gibt vom Gefühl her ein neues Verständnis von Menschheit ohne Grenzen. Von daher sehe ich Chancen, genau darauf aufzubauen. Es ist auch wichtig zu erleben, dass wir in unserer unglaublich privilegierten Welt auch mal betroffen sind. Wir gucken es uns ja sonst immer von der Seite an.
Du meinst dadurch, dass wir alle gleich „dran“ sind, wirkt es anders…
Genau. Zu erleben, wie es das eigene Leben beeinflusst, das macht was mit uns. Natürlich kommt es darauf an, was jetzt noch passieren wird. Es gibt genauso viele Szenarien, die sagen, das rutscht total ab oder das wird ganz schnell wieder vergessen. Ich glaube nicht an rein positive Auswirkungen, gar nicht. Aber dass wir alle gemeinsam in einem Boot sitzen, da steckt schon etwas Hoffnung drin.
Das ist die Wilding Shoes GmbH
Die Wildling Shoes GmbH – das sind Anna, Ran und ihre drei Kinder, die Ausgangspunkt und Inspiration für ihre Unternehmensgründung waren. Die Entwicklung ihres einzigarten Produkts startet 2014, ein Jahr später nehmen sie bei Kickstarter 75.000 Euro mit ihrer ersten Kollektion ein. Im Mai vor fünf Jahren wurde der erste Wildlingschuh geboren – mit Hilfe „einiger wunderbarer Menschen in Portugal“, worauf stets verwiesen wird. Denn bei Wildling legt man viel Wert auf eine Kultur des Miteinanders. Aber auch Nachhaltigkeit (ökologische Materialien, ressourcenschonende Produktion), Qualität und New Work werden groß geschrieben.
Übergeordnetes Ziel ist es, Menschen wieder in direkten Kontakt mit ihrer Umwelt zu bringen, um Anreize für einen aktiven Lebensstil zu bieten. Und das mit einem Design, das stylisch ist und mit so wenig Schuh wie möglich auskommt.
Bewusst werden die Schuhe nicht über den stationären Schuhhandel angeboten und statt klassischer Werbung arbeitet Wildling von Anfang an mit Influencern zusammen. Beispiel Facebook, Stand Dezember 2021: Fast 35.000 Menschen tauschen sich dort sehr rege allein in der privaten Gruppe „Wildling Community“ aus, über 65.000 gefällt der Wildling Unternehmensauftritt auf Facebook, wo es auch Live-Beratungen gibt. Stets ein Geben und Nehmen von Informationen, Anregungen und Tipps.
Mehr Infos über Anna und Wildling:
Und: Wer verstehen möchte, wie Anna mit ihrem Mann Ran Yona zusammenarbeitet: So kann das Arbeiten als Paar klappen!
Fotos via Wildling und Elke Tonscheidt