Tiere helfen Kindern in Not
Tiere, die aus Notlagen gerettet wurden, helfen jetzt Kindern mit Traumata und Bindungsstörungen. Das ist die Idee und ein neues Vorhaben von „Kinder in Not“-Projektpartnerin Regina in Sao Paolo, Brasilien. Einen ersten Erfahrungsbericht hat Verena Batchelor von „Kinder in Not“ e.V. für ohfamoos zusammengestellt.
Mateo und das Huhn kennen sich schon ein paar Wochen. Es hat einige Zeit gedauert, bis der schmächtige 8-jährige Junge sich überhaupt in den Stall getraut hat. Dann wiederum dauerte es ein wenig, bis sich das Huhn an Mateos Gegenwart gewöhnt hatte. Die beiden gaben sich geduldig genau die Zeit, die sie brauchten, um sich gegenseitig kennenzulernen und anzunähern.
Tiere mit Geschichte
Mateo und das Huhn sind jedoch mehr als nur eine außergewöhnliche Freundschaft. Die Ausflüge des Jungen auf Reginas kleine Farm mitten im Atlantischen Regenwald, am Rande der Metropole Sao Paolo, finden im Rahmen der tiergestützten Therapie statt – eine neue Maßnahme im Rahmen der bestehenden Projekte „Kindertagesstätte Casa Crianca Querida für HIV positive Kinder“ (kurz: CCQ) und „Krippe Sterntaler“. Tiere mit Geschichte treffen hier auf kleine Menschen mit Geschichte.
„Ich komme alle zwei Wochen her“, strahlt Mateo. Bei den Tieren fühlt er sich wohl und geborgen. Mit Menschen hat Mateo dagegen oft keine guten Erfahrungen gemacht. „Der Kontakt mit Tieren ist für Kinder und Jugendliche, die sich aufgrund traumatischer Erfahrungen innerhalb der Familie im Umgang mit Menschen schwertun, eine gute Übung,“ berichtet uns Regina, Projektleiterin und Fachkraft für tiergestützte Therapie. Die Grundidee ist, dass Kinder im Umgang mit den Tieren Selbstwirksamkeit erfahren, Selbstbewusstsein aufbauen und positive Bindungserfahrungen sammeln. Die Kinder kommen mit posttraumatischen Stresssymptomen zu Regina, mit Schlaf- und Essstörungen, Nervosität, Apathie, Lustlosigkeit. Manche verletzen sich selbst, sind depressiv und suizidgefährdet. Bei den Kleinsten zeigen sich Probleme in motorischen Fehlreaktionen, Aggressivität, Hyperaktivität, extremer Anhänglichkeit oder Apathie.
Die Arbeit mit den Tieren ist deshalb so wertvoll, weil diese oft emotionale Eisbrecher sind. Schon allein das Streicheln löst einen positiven Cocktail aus Botenstoffen wie Oxytocin, Serotonin und Dopamin aus. Aufgedrehte Kinder werden plötzlich ganz ruhig. Sie übernehmen wieder Verantwortung, zunächst für das Tier und später auch für sich. Sie haben durch die Pflege des Tieres wieder eine Aufgabe und wissen, dass sie gebraucht werden.
Die Krise als Startschuss
Schon seit einigen Jahren bereitet sich das Team um Regina mit Kursen, Eigenstudium, Recherche und Ausbildungen darauf vor, den Traum von einer tiergestützten Therapie zu verwirklichen. Jetzt endlich ist der Zeitpunkt gekommen, das Projekt zu starten. Die Corona Pandemie hat dem Land und den Kindern viel Leid gebracht.
Reginas Schützlinge sind nach rund einem Jahr des Lockdowns kaum wiederzuerkennen. Durch die pandemiebedingten Schließungen konnten die Mädchen und Jungen die Einrichtungen nicht besuchen. „Das, was unsere Psychologin uns aus Schutzgründen mitteilen darf, reicht aus, zu begreifen, dass das Leid der Kinder und Jugendlichen, die seit den Schließungen unserer Projekte in ihrem Umfeld eingeschlossen waren, bei weitem unsere Vorstellungen übersteigt. Missbrauch oder Gewalt in der Familie sind keine Seltenheit,“ berichtet Regina.
Vom Geretteten zum Retter
Wie kam der Traum von der tiergestützten Therapie überhaupt zustande? Bei dem Thema strahlen Reginas Augen: „Natürlich weil auch wir selbst einen engen Bezug zu Tieren und der Natur haben.“
Wir setzen uns auch schon seit Jahren in der Tierrettung ein.
Zuletzt erreicht uns die Meldung, dass Regina eine „ausrangierte“ Milchkuh vor dem Hungertod bewahrt hat. Das ist nicht das erste Mal – wir erinnern uns noch lebhaft an die Bilder eines abgemagerten Hengstes, den Regina letztes Jahr vor dem Schlachthof rettete. Keiner konnte sich vorstellen, dass das geschwächte Tier jemals wieder Vertrauen zu Menschen fassen könnte. Aber da lagen zum Glück alle falsch – Hengst Bonnie ist noch heute der große Star unter den Therapietieren. Sein Fell glänzt, die Augen strahlen wieder. Wie als würde er danke sagen wollen, geht er mit einer Engelsgeduld auf jedes Kind ein.
Zurück zur Natur
Besonders in der staubigen Riesenmetropole Sao Paulos kann einem sehr schnell deutlich werden, wie weit sich die Gesellschaft von der Natur entfernt hat. Sie scheint sogar vergessen zu haben, dass sie ein Teil von ihr ist. In den Randgebieten Sao Paolos regieren der Smog, die Favelas, das Grau. Nicht einmal Parks oder botanische Gärten gibt es hier. Die Kinder, die gemeinsam mit der Gesellschaft beinahe jeden Bezug zur Natur verloren haben, können sich nicht mehr in die natürliche Welt zurückziehen, dort Kraft und Stärke tanken. Das führt zu einer weiteren Krise.
Es gibt Studien, die nachweisen, dass der Mensch nicht sein gesamtes Entwicklungspotential ausbilden kann, wenn er in der frühkindlichen Phase nicht seine „natürliche Umwelt“ mit Menschen, Pflanzen und Tieren um sich hat. Kinder in Not will gemeinsam mit Reginas Pilotprojekt die Kinder stärken und ihnen diese Zugehörigkeit zu der magischen „natürlichen“ Welt ermöglichen.
Innerer Bewegungsmangel
Kinder sind mehr und mehr der Digitalisierung ausgesetzt und ausgeliefert. Dass Bewegungsmangel schadet, ist mehr als bewiesen. Dass aber auch der „innere Bewegungsmangel“ schadet, werden wir vielleicht erst in späteren Generationen bitter zu spüren bekommen. Die Kinder, die in die CCQ oder Sterntaler Krippe kommen, haben in der Regel das gesunde Zusammenspiel von Bedeutung und Inhalt der Sprache mit Gefühl und Körperausdruck verloren. So können die Jugendlichen lügen, ohne Scham oder Moral zu empfinden, Zuneigung mit Sexualität verwechseln, sich schuldig fühlen ohne Grund oder sie überspielen Angst mit Grossprotzigkeit.
Tiere als emotionale Eisbrecher
Hier können Tiere helfen. Wenn wir mit Pferden oder Hunden sprechen wollen, müssen wir uns mit Körper und Gefühl ausdrücken, müssen authentisch sein. Das tolle an der Beziehung zu einem Tier ist, dass die Tiere nie urteilen. Sie reagieren nur auf jeweilige Impulse und Situationen und akzeptieren den Menschen unabhängig von jeglichen Statussymbolen, Kleidung, Besitz oder Intelligenz.
„Kinder in Not“ möchte Kindern ermöglichen, den Weg zu ihrer wahren Natur zurückzufinden und die natürliche Sprache des Herzens wiederzuerlangen. Die Mädchen und Jungen sollen lernen, ihrer Intuition zu vertrauen. Kinder, deren Beziehungen mit Menschen schwierig sind, können sich leichter den Tieren öffnen, ohne Angst haben zu müssen, dass die Tiere irgendwelche Fragen oder Forderungen stellen, oder etwas weitererzählen. Nervöse oder aufgedrehte Kinder können mit beruhigenden Tieren zur Ruhe kommen, das Kauen der Kühe oder Pferde ist den Geräuschen, die wir vor der Geburt im Mutterleib wahrnehmen ähnlich, und apathische Kinder können mit Hilfe von Tieren in Bewegung gebracht werden, ohne es zu merken. Kinder, die Herausforderung suchen, können einem Pferd etwas beibringen, oder ängstliche Kinder stolz sein, weil sie sich getraut haben zu reiten.
Delfine im Urwald?
Reginas Tiere sind tiefenentspannt und freuen sich, wenn Kinder kommen. Sie geben das Tempo vor, an denen sie zutraulich werden und ihnen ist es freigestellt, sich jederzeit zurückzuziehen. Sie sind zahm, springen die Kinder nicht an und fressen für ihr Leben gern aus der Hand. Ganz wichtig bei dieser Arbeit ist, dass Tiere nicht instrumentalisiert und überfordert werden.
Der Schutz der Tiere darf bei der Arbeit niemals aus den Augen verloren werden.
Probleme entstehen beim Einbezug von wild lebenden oder den falschen Tieren. Es ist unglaublich wichtig, die richtige Tierart und den passenden Tiercharakter auszuwählen. So ist der Einsatz von wild lebenden Tieren, z.B. in der Delfintherapie, hoch umstritten. Auch eignet sich ein schreckhaftes Kaninchen nicht in der Therapie gegen Aggressionsstörungen.
Das Projekt ist noch recht klein und neu, soll aber weiter ausgebaut werden. In einer Therapiesitzung verbringen die Kinder den Tag auf der kleinen Farm im Regenwald und werden dort jeweils eine Einheit Reittherapie, eine Einheit mit einem der anderen Tiere und je nach Bedarf einen Abschluss mit Kunsttherapie erhalten. Zwischendurch gibt es kleine Pausen mit einer Stärkung, auf dem Teppich kuscheln und Tierbücher anschauen, Salat für das Mittagessen aus dem Garten holen…einfach das, was gut tut. Die Kinder sollen erleben, dass dieser Tag ein Wohlfühltag ist und sich entspannen dürfen. Hürden und eigene Grenzen sollen sie überschreiten, ohne dies als Schwere zu erleben und hinterher stolz auf sich sein. Probleme und Sorgen dürfen, müssen aber nicht zum Ausdruck gebracht werden. Mit dem Lauf der Zeit werden die Kinder lernen, die Zusammenhänge der Tiere, der Natur und schließlich des Menschen neu zu begreifen: und das hoffentlich mit sehr viel Spaß, Kuscheleinheiten, Bewegung und Freude.
Tiere retten Kinder unterstützen
Die Aktionsgruppe “Kinder in Not” e.V. wurde 1983 gegründet. Aktuell unterhält bzw. unterstützt die Aktionsgruppe mehr als 50 Hilfsprojekte auf den Philippinen, in Indien und Brasilien.
Unsere heutige Gastautorin Verena Batchelor arbeitet für die Aktionsgruppe im Marketing, PR und in der Kommunikation und hat bereits auf ohfamoos wie folgt berichtet: Wo aus Not Hoffnung wird
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