Sind Jugendliche die Helden dieser Zeit?
Jan Meiforth (45) bezeichnet sich nicht als „großen Leserbriefschreiber“. Aber an einem Tag im Mai 2021 hielt er es nicht mehr aus und tippte los. Das, was er in einem Offenen Brief in der Süddeutschen Zeitung schrieb, wurde unter dem Titel „Danke an die Jugend!“ publiziert. Sein Text löste eine Welle positiver Rückmeldungen aus. ohfamoos hat Jan über das Thema Jugendliche und Bildung interviewt, wie es weiterging – und geht.
Wir wollten wissen: Was treibt diesen Mann dazu, sich so zum Thema Jugendliche und Bildung zu positionieren? Und was ist seitdem passiert?
In Gänze seht Ihr Jan Meiforths Brief an die Jugend unter diesem Interview, vorab nur ein Auszug daraus:
„Danke dafür, dass ihr die Rettung von Großkonzernen ertragen habt, während kein Geld für Luftfilter in euren Klassenzimmern vorhanden war, dass ihr den Streit um die kleinsten Details im Hin und Her der Öffnung und Schließung von Einrichtungen des öffentlichen Lebens mit angesehen habt, ohne laut die andauernde Konzeptlosigkeit der Bildungsverantwortlichen anzuprangern.“
Ein Interview über Jugendliche und Bildung
Mittlerweile wissen wir: Jan Meiforth hat zudem viele Politiker befragt und sich mit diesen auseinandergesetzt. Elke hat Jan kontaktiert, mit ihm telefoniert und ihm dann folgende Fragen gestellt:
Jan, Du nennst die Jugend in Deinem vielbeachteten Leserbrief „Helden dieser Zeit“. In zwei Sätzen, warum?
Junge Menschen haben selbst ein sehr geringes Risiko für einen komplizierten Verlauf bei einer Infektion. Ich finde es sehr beeindruckend und bemerkenswert, wie sie die Einschränkungen klaglos hinnehmen, um die gefährdeten Gruppen der Gesellschaft zu schützen.
Ist es an der Zeit, dass sie laut werden?
Wahrscheinlich ist die Zeit gekommen, wieder an die eigenen Bedürfnisse zu denken und dies auch zu sagen. Die Schülerin Ananda Klaar hat dazu kürzlich einen eindeutigen Artikel in der Zeit verfasst. Laut werden sollten aber auch die Eltern und Großeltern, die diese Zeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen erlebt haben. Gerade bei den Eltern ist das Schweigen verständlich, weil viele neben Schule, Haushalt und Beruf nicht die Zeit finden.
Dein Eindruck ist: Das Bildungsthema spielt in Parteiprogrammen eine Rolle, kommt aber im Wahlkampf nicht zur Sprache. Was läuft da falsch?
Möglicherweise erscheint den Parteien das Bildungsthema zu komplex zu sein, um die Botschaften in der gebotenen Twitterkürze zu verbreiten. Wahrscheinlich ist ihnen auch nicht klar, wie viele enttäuschte und frustrierte Eltern es derzeit gibt, die Angebote zum Thema dankbar aufnehmen würden. Vermutlich wissen sie es nicht, weil sich die Eltern und die Betroffenen zu wenig melden.
Leserbriefe schreiben sei schön und gut, sagst Du – und hast weitergemacht: Parteiprogramme gelesen, Politiker angeschrieben. Explizit hast Du immer wieder die Grünen gefragt: Was ändert sich in Sachen Bildung, wenn sie bundesweit in Verantwortung kommen. Und?
Vorab: Ich fühle mich an keine Partei gebunden und habe in meiner Wählerbiografie schon jede der vier im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien gewählt – manche häufiger, manche seltener. Da das Bildungsthema momentan für mich wahlentscheidend ist, habe ich die Programme aller Parteien gelesen. Die GRÜNEN haben aus meiner Sicht dazu die konkretesten Ideen und Vorhaben genannt. Ich hatte die Gelegenheit mich mit deren bildungspolitischen Sprecher des Stuttgarter Landtages auszutauschen. Das hat mir geholfen.
Welche Antworten bekommst Du noch?
Das Bildungsthema sei kompliziert, die Strukturen einigermaßen fest und die Detailarbeit finde in Fachgremien statt.
Was sagen die Verantwortlichen, warum sie das Thema Bildung nicht stärker im Wahlkampf „besetzen“?
Sie sagen einerseits, dass das Thema durchaus bespielt würde und das Nachrichtentempo andererseits so hoch sei, dass andere Dinge schnell in den Vordergrund kämen. Das verstehe ich auch, aber:
Wenn eine Partei die Wähler*innen überzeugen will, muss sie die ihr wichtigen Botschaften auch senden! Aufgrund aktueller Ereignisse mag es schwer sein, Gehör zu finden, aber mir passiert da zu wenig.
Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass man mit dem Thema punkten könnte. Die meisten Schülerinnen und Schüler können nicht wählen, haben aber Erziehungsberechtige, die ihre Interessen wahrnehmen können.
Wie frustrierend ist es, wenn man sich als Wähler solche Mühe(n) macht?
Mich hat durchaus erstaunt, dass mehrere Anläufe zur Kontaktaufnahme notwendig waren. Frustriert bin ich deshalb nicht.
Ziehst Du daraus Konsequenzen?
Wenn ich auf eine Frage, die mir wichtig ist, keine Antwort bekomme, frage ich nochmal nach oder sende mein Anliegen an andere Personen. Auf den Webseiten der Parteien finden sich ausreichend Adressen.
Warum ist Dir das Bildungsthema aktuell so wichtig?
Unsere drei Kinder bewegen sich in der Mittelstufe unter normalen Umständen recht eigenständig durch den Schulalltag. Dann kam der 1. Lockdown und ich war zwangsläufig viel näher dran, habe z.B. Aufgabenzettel ausgedruckt und mit ihnen besprochen. Das war schon alles nicht prickelnd, aber gut, wir standen am Anfang. Als später der Wechselunterricht kam, wurde das öffentlich als Befreiung und Rückkehr zum regelmäßigen Schulbetrieb gefeiert.
Aber die Realität sah anders aus, oder?
Ja. Es kam vor, dass ich unsere Tochter um 9 Uhr morgens fragte, warum sie jetzt im Bett liege und ein Buch lese. Als sie sagte, dass sie alle Aufgaben für diesen Tag bereits erledigt habe und das stimmte, kamen mir fast die Tränen.
Was kritisierst Du besonders?
Die Technik zum gemeinsamen Unterricht mit einer „vor-Ort“ und einer „zu-Hause-Gruppe“ funktioniert nicht und es existiert kein Konzept. Unzweifelhaft ist in den letzten Monaten viel versäumt worden. Öffentlich und in den Schulen wird das aber nicht ausreichend diskutiert und keine Konsequenzen gezogen. Das Schuljahr hat in einigen Bundesländern begonnen oder beginnt in anderen in Kürze so, als hätte es die anderthalb Jahre nicht gegeben. Und das ist keine Besonderheit der Schule unserer Kinder, sondern ein ganz allgemeines Problem. Für mich hat das viel mit fehlender Verantwortung und Wertschätzung zu tun.
Dein Engagement beeindruckt uns, denn insgesamt empfinden wir viele Eltern als sehr still. Und wir haben die Petition „Ein Ruck für die Bildung!“ gestartet. Was planst Du weiter zu tun?
Weil mir Briefe schreiben und sich schämen nicht reicht, versuche ich mit den Zeitungsredaktionen und den Politikern in Kontakt zu bleiben. Ferner schreibe ich gerade jeden, der den Leserbrief mir gegenüber lobend erwähnt hat, an. Bei Twitter hat jemand in einer Diskussion um meine Zeitungsäußerung geschrieben „Ich stimme zu – wo kann ich unterschreiben?“. Vielleicht schaffe ich mir einen Account an und weise den Schreiber auf Eure ohfamoose Petition hin.
Das wäre schön, denn gemeinsam sind wir lauter 🙂 Danke für Deine Antworten!
Jan Meiforth lebt in Weinheim als Vater dreier Teenager. Für uns steht Jan stellvertretend für all jene, die das Bildungssystem und die Art und Weise, wie Politiker*innen sich damit auseinandersetzen, in Frage stellen.
Und das war der vielbeachtete Leserbrief aus der SZ, den wir mit Genehmigung von Jan auf ohfamoos noch mal publizieren:
Danke an die Jugend
Vielen Dank für alles! Danke dafür, dass ihr in den vergangenen 15 Monaten auf Bildungschancen, gemeinsame Zeit mit euren Freunden, die erste Liebe, die Abifeier, den Tanzkurs, Kino, Party, Auslandssemester und „Fridays for Future“-Demos verzichtet habt, um ganz ohne Eigennutz das Leben von alten und kranken Menschen zu retten. Danke dafür, dass ihr die Rettung von Großkonzernen ertragen habt, während kein Geld für Luftfilter in euren Klassenzimmern vorhanden war, dass ihr den Streit um die kleinsten Details im Hin und Her der Öffnung und Schließung von Einrichtungen des öffentlichen Lebens mit angesehen habt, ohne laut die andauernde Konzeptlosigkeit der Bildungsverantwortlichen anzuprangern.
Als Erwachsener mittleren Alters schäme ich mich zutiefst für die Gleichgültigkeit meiner Generation und der Generation meiner Eltern gegenüber euren Bedürfnissen. Wir lassen zu, dass nach all den Monaten des Heimunterrichts Videokonferenzen bei euch immer noch nicht funktionieren. Wir erlauben, dass es in der ersten Woche Präsenzunterricht nach sechs Monaten der Trennung nichts Wichtigeres gibt, als Klassenarbeiten zu schreiben.
Wir gestatten, dass Friseure und Gaststätten öffnen, bevor wir euch ernsthaft fragen, wie es euch geht, und was getan werden muss, um euch jetzt zu unterstützen, ohne damit Nachhilfeunterricht zu meinen. Ich danke euch und bitte im Namen der Gesellschaft um Verzeihung. In meinen Augen seid ihr die Helden dieser Zeit.
Jan Meiforth, Weinheim