Demokratie und Eigeninitiative
So langsam verliere ich die Geduld mit Deutschland. Und ich schreibe das gleich für meine Kollegin Elke mit, die es ebenfalls nicht mehr hören kann. Diese ewigen Debatten in den Sozialen Medien und in den TV-Talkshows: Einfach nicht mehr auszuhalten. Es wird gemeckert und gejammert, was alles falsch ist, falsch läuft – und am besten sollten die jeweiligen Politiker gleich zurücktreten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Medienmacher der Hetze und Cancel-Culture ebenfalls hingeben. Wo bleiben bei uns Demokratie und Eigeninitiative?
Vor gar nicht langer Zeit….
Könnt ihr Euch noch an den Vorschlag der Grünen an den Veggie Day erinnern?
Im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2013 sorgte die Forderung der Grünen, den Veggietag einzuführen, für viel Aufregung und Empörung. Speziell in den sozialen Netzwerken war die Resonanz besonders groß. Der Veggie Day wurde als die Lachnummer des Wahlkampfs bezeichnet und die Grünen als „lustfeindlich“, „Spaßverderber“ oder „Partei der Verbote“ betitelt.
Ein Gesetz für den Veggie Day gab es nicht, obwohl es gesund wäre. Das nennt man Demokratie. Aber mittlerweile ist, laut Fleischatlas 2021 der Heinrich-Böll-Stiftung, der Konsum von Fleisch in Deutschland bereits seit Jahren leicht rückläufig. 57,3 Kilogramm Fleisch hat jeder Deutsche 2020 verzehrt. Immer noch zu viel, wie wir finden, aber: 2018 waren es noch knapp vier Kilogramm mehr pro Person. Speziell bei der jüngeren Generation ist der bewusstere Verzicht von Fleisch ausgeprägt. Das nenne ich Eigeninitiative.
Zurück zum jetzt… das Thema: Energie
Deutschland will weniger abhängig von russischen Energielieferungen sein, deshalb werden derzeit die Forderungen nach einem Tempolimit auf deutschen Autobahnen lauter. Im Verkehrsbereich gibt es dafür eine sogar kurzfristig wirksame Maßnahme: ein generelles Tempolimit auf den Autobahnen. Bei den Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP ist jedoch die Einführung eines Tempolimits am Widerstand der Liberalen gescheitert. Das nennt man Demokratie.
Brauchen wir für alles ein Gesetz?
Da sitzen wir in unserem Wohlstand, können freie Entscheidungen treffen und jammern, weil es kein Tempolimit gibt.
Hallo, hört ihr Euch überhaupt noch zu? Wo sind denn die mündigen Bürger?
Wer zwingt Euch schnell zu fahren? Warum braucht es in Deutschland für alles Gesetze? Können wir nicht selbst handeln, auch ohne die gesetzliche Vorgabe der Politik? Mir fallen gleich mehrere Dinge zum Thema Energiesparen im Straßenverkehr ein:
- Wir können freiwillig langsamer fahren
- Wir können den Öffentlichen Personen Nahverkehr mehr nutzen
- Wir können zu Fuß einkaufen gehen
- Wir können sogar Fahrgemeinschaften bilden
- Wir können – nostalgisch – autofreie Sonntage feiern oder sogar „anzetteln“
Ja, ich weiß, das klingt alles nicht so prickelnd, denn dafür müssen WIR SELBST etwas tun, zum Beispiel uns verlangsamen, laufen und organisieren. Und es gibt auch kein Gesetz, dass es uns vorschreibt, so zu handeln. Aber so was würde ich Eigeninitiative nennen und diese loben.
Und dann wäre da noch Karl…
Unser Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach tut mir leid. Er hat nach dem Scheitern der Corona-Impfpflicht im Bundestag eine Niederlage eingeräumt. Das ist Demokratie.
Und er hat auf öffentlichen Druck hin eine zunächst geplante Isolationsmaßnahme revidiert: Corona-Infizierte müssen sich auch zukünftig verpflichtend in Isolation begeben. Die Gesundheitsminister der Länder hatten am 4. April einem Vorschlag von Lauterbach zugestimmt, dass die Isolation von Corona-Infizierten und ihren Kontaktpersonen ab dem 1. Mai freiwillig sein sollte.
In der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ räumte er spät abends ein, einen Fehler gemacht zu haben. Die Isolation für Infizierte soll doch weiterhin verpflichtend bleiben. Er habe mit seiner Entscheidung die Gesundheitsämter entlasten wollen. Dies habe allerdings ein falsches psychologisches Signal gesendet. „Die Quarantäneregel aufzuheben, war ein Fehler“, sagt Lauterbach am Mittwoch auf der Pressekonferenz in Berlin. Für diesen sei er persönlich verantwortlich. Er habe damit fälschlicherweise das Signal gesendet, dass man nun lockern könne. Dies sei allerdings nicht der Fall. Und er fügte hinzu:
Man muss nicht stur bleiben, wenn man erkennt, dass man etwas falsch gemacht hat.“
Karl Lauterbach
Und jetzt werden Rufe zu seinem Rücktritt laut. Auf Twitter ergötzt man sich unter dem #LauterbachRuecktritt mit Anschuldigungen. Ich bin fassungslos. Noch vor Monaten hieß es genau dort bei Twitter: #wirwollenKarl, ja sogar: #wirbrauchenKarl. Schon vergessen? Und man kann ja nicht sagen, dass Karl Lauterbach bei seiner Medienpräsenz ein Unbekannter gewesen wäre. Die Wähler*innen wussten, wie der Mann tickt. Und jetzt soll er bitte wieder gehen. Einfach nur krass.
Cancel-Culture in unserer Demokratie
Meine Kollegin Elke beschreibt in ihrem Facebook-Account oft, wie sie – die ja länger selbst in der Politik war – die politische Debatte heute sieht. In einem ihrer letzten Posts macht sie darauf aufmerksam, wie heuchlerisch gerade manche Medien zwischen heftigem Lob und vernichtender Kritik wechseln. Peggy Hoy, eine unserer Leserinnen, die die Politik ebenfalls gut kennt, antwortet Elke auf Facebook u.a.:
Menschen werden hoch gelobt und geschrieben, und beim kleinsten Fehler wird draufgehauen. Ein furchtbares Zeichen unserer Zeit und für die Verlogenheit in vielen Dingen. Das kann man an so vielen Debatten sehen.“
Was denkt Ihr, liebe ohfamoosen Leser*innen? Schreibt uns gern als Kommentar, wie Ihr die Lage seht.