Tinnitus ist keine Krankheit
Es ist ein großes und weit verbreitetes Leid: Der Tinnitus. Wer ihn hat, wird ihn so schnell nicht los. Und „doktert“ daran herum, hangelt sich von einer Behandlungsidee zur anderen. Was für ein Stress! Gastautorin Anne Stosch beschäftigt sich mit den Ursachen und Risikofaktoren – und erklärt, was wir selbst tun können.
Tinnitus ist keine Krankheit, sondern ein Symptom – für mich eine entscheidende Erkenntnis der Wissenschaft. Denn noch bis vor Kurzem wurde schwer Betroffenen der Hörnerv des betroffenen Ohres durchtrennt, um den Tinnitus endlich zu beenden. Mit dem Ergebnis: Das Ohr war danach taub, der Tinnitus immer noch vorhanden.
Der (subjektive) Tinnitus gehört zu den Phantomgeräuschen. Dabei bedeutet Phantomgeräusch nicht, sich das Geräusch einzubilden. Es ist wie mit Phantomschmerzen – fehlgeschaltete Nervenbahnen senden falsche Signale an das Gehirn.
Ein Phantomgeräusch ist keine Einbildung!
Welche Ursachen lösen das Symptom Tinnitus aus? Eine grundlegende Ursache ist: Stress.
Aber sind Ohren nicht einfach Ohren?
Es gibt da einen interessanten Zusammenhang:
Sind wir gestresst, schüttet unser Körper Stresshormone aus. Dann werden Muskeln aktiviert, das Herzkreislaufsystem angekurbelt, das Blut mit Fetten und Zuckern angereichert etc. Vorbereitungen für Stressreaktionen wie Kampf, Flucht oder Totstellen.
Das Stresshormon Cortisol
Ein solches Stresshormon ist Cortisol, das im Ohr eine Freisetzung von Glutamat und Calcium bewirkt. Mit diesen beiden Stoffen werden die Hörsinnzellen in den Ohren enorm angeregt, zusätzlich eine starke Aktivität im Gehirn ausgelöst. Genau dort, wo das Hören und die Interpretation des Gehörten passiert, weshalb Stress verstärkend wirken oder die Stressreaktion initial ausgelöst werden kann.
Das bedeutet:
Durch Stress werden unsere Ohren extrem angeregt – oder umgekehrt: Unser Stresszentrum wird aktiviert, wenn unsere Ohren überaktiv sind.
Aber wieso eigentlich?
Unsere Ohren sind überlebensnotwendig
Unsere Ohren sind, gerade wenn es stressig wird, überlebensnotwendig. Stell’ dir vor, wir sitzen gemütlich um ein Lagerfeuer, das schön knistert, und hören plötzlich ein Geräusch, das irgendwie nicht passt. Unsere Ohren nehmen wahr, unser Gehirn interpretiert: GEFAHR. Wir hören genauer hin und können jedes noch so leise Äste-Knacken hören. Die Überaktivierung unserer Hörzellen ist in diesem Falle also Gold wert.
Im modernen Stress sieht das leider ganz anders aus. Der scheint oft unendlich, wiederholt sich gern Tag für Tag. Da wird eben das Tippen des/der Kolleg*in auf der Tastatur zur Zerreißprobe. Denn wenn wir gestresst sind, nehmen wir es viel stärker wahr.
Geräusche, die negativ verbunden sind, stressen besonders
Doch nicht nur laute Geräusche sind anstrengend. Auch Geräusche, die wir mit etwas Negativem verbinden, können uns ziemlich stressen.
Und wenn wir gestresst sind, dann fällt es uns immer schwerer, Wichtiges von Unwichtigem herauszufiltern. Nicht nur was Geräusche betrifft. Wir ertrinken in Aufträgen und Arbeit, die Termine nehmen überhand, die Zeit wird immer knapper.
Wir werden immer angespannter und unsere Ohren empfindlicher.
Wir können uns schlechter auf Gespräche konzentrieren, nehmen nervige Geräusche stärker wahr und bei Ruhe wird es in den Ohren immer lauter. Das ist schon bei Menschen so, die nicht unter Tinnitus leiden. Und jetzt stell’ dir mal vor, Du hättest ein dauerhaftes Ohrgeräusch, das Du zusätzlich zu allem anderen ausblenden musst. Was für ein Stress!
Weitere Ursachen und Risikofaktoren sind:
- Hörsturz
- akustische Traumen
- Ohr-Erkrankungen (zB Mittel- und Innenohrentzündungen)
- mangelnde Durchblutung des Innenohrs
- Thrombosen, Embolien Gefäßkrämpfe
- Virusinfekte
- Autoimmunprozesse
- Drehschwindel
- Funktionsstörungen der Halswirbelsäule, des Kiefers und/oder des Schultergürtels
- emotionale und psychische Belastung
- Nebenwirkung von Medikamenten
- Herzrhythmusstörungen, Blutdruckveränderungen
- gestörter Hormonhaushalt
- Veränderung der Druckverhältnisse durch tauchen oder fliegen
- Alkoholmissbrauch
- etc
Die Liste ist nicht vollständig, so vielfältig kann die Ursachenlage sein. Weshalb es oft auch sehr schwierig ist, eine sofort erfolgreiche Behandlung des Tinnitus zu erreichen.
Viele müssen mit Tinnitus ganz allein klarkommen
Unser Gesundheitssystem ist hier, gelinde gesagt, nicht gut aufgestellt und die Zeit, die HNO-Ärtz:innen für ihre Patient:innen haben, gering. Ist die Diagnose Tinnitus, wird oft auf eine Kortisontherapie zurückgegriffen.
Aber kann überhaupt eine grundlegende Verbesserung eintreten, wenn an der eigentlichen Ursache nichts geändert wurde?
Darum hangeln sich Betroffenen nach erfolgloser Kortisonbehandlung oft von einem Tipp zum nächsten und von einer Behandlungsidee zur anderen.
In Düsseldorf und Krefeld gibt es umfassende Ansätze
- Das Tinnitus Therapie Zentrum Düsseldorf und Krefeld hat da tatsächlich, nach meinen Recherchen, gute und umfassende Ansätze gefunden:
- Das Krefelder Modell wird wissenschaftlich begleitet (Institut für Integrative Medizin der Universität Witten/Herdecke).
- Die bisherige Datenlage umfasst fast 5000 Patient*innen, deren Lebensqualität sich in allen Bereichen (z.B. Schlaf- und Konzentrationsstörungen) deutlich verbessert haben.
Besonders interessant: Der Schweregrad des Tinnitus hatte keinen Einfluss auf den Behandlungserfolg – und sogar die Krankenkassen übernehmen die Behandlungskosten.
Tinnitus: Was Du selbst tun kannst
Gerade, wenn es um dich herum leiser wird, wird dein Tinnitus lauter. Deshalb beachte …
Meide Stille
Höre zum Einschlafen oder zur Konzentration leise Musik oder Naturgeräusche. Menschen mit Tinnitus sollten ihren Fokus auf andere Geräusche lenken, so den Stress durch das Dauergeräusch entschärfen.
Übe Dich in positiveren Gedanken
Unser Mindset ist oft im Ärger-Modus – wir ärgern uns über viele tausend Kleinigkeiten. Da Stress Ohren überaktiviert, sind gute Gedanken eine Wohltat. Das ist nicht immer einfach, ich weiß, doch unmöglich ist es nicht…
Ausreichender und regelmäßiger Schlaf
… entspannt natürlich auch und versorgt den Körper mit der nötigen Erholung.
Treibe Sport, bewege Dich
Bewegung sorgt für Ausgleich und Ablenkung – irgendeine Sportart wird auch Dir gefallen, wenn Du wirklich suchst.
Isoliere Dich nicht von anderen
Ein netter Nachmittag mit Familie oder Freunden. Ein Abendessen in lockerer Runde, Ausflüge – andere Menschen lenken Dich von Deinen Ohrgeräuschen ab.
Ein neues Therapiekonzept hat sich entwickelt
Mussten Betroffene bis vor wenigen Jahren einfach lernen, mit Ohrgeräuschen zu leben, hat sich inzwischen ein neues Therapiekonzept entwickelt, das sich Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) nennt. Es heißt, der Tinnitus könne bei rund 30% der Betroffenen ganz verschwinden. Es wurde unter anderem ein spezielles Rauschgeräusch entwickelt, das man das „weiße Rauschen“ nennt.
Wenn Du darüber – oder andere bereits genannten Fakten – mehr wissen möchtest, melde Dich gern bei mir! Auch kann die Deutsche Tinnitus Liga e. hier noch mehr Infos geben.
So hört sich ein Tinnitus an: (Werbung wg Verlinkung, unbeauftragt, unbezahlt)
https://www.youtube.com/watch?v=O3tlRouBvgE
Wir hoffen, Anne – die auf ohfamoos bereits über Schulterschmerzen aufgeklärt hat – konnte dir etwas Neues über den Tinnitus berichten. Vielleicht konntest Du Dich auch an etwas erinnern, was im Laufe der Zeit unwichtig wurde… und Du hast jetzt neue Energie, Dich mit den Ursachen zu beschäftigen.
Gastautorin Anne Stosch ist Physiotherapeutin, Beraterin für betriebliche Gesundheitsförderung und Mediatorin. Sie startete ihren physiotherapeutischen Werdegang mit den Schwerpunkten Psychosomatik, Orthopädie und Geriatrie. Nach einigen Jahren in Praxen für Krankengymnastik ging sie 2011 in den Fachbereich Prävention der AOK Niedersachsen.
2017 bündelte Anne ihr Wissen und machte sich selbstständig. Seitdem bietet sie betriebliche Gesundheitsförderung in Unternehmen (digital und analog), Anti-Stress-Coaching to go und Seminare und Workshops an. Tipps und Tricks zu den Themen Entspannung und gesundheitsbewusste Rituale findest du auf Annes social media-Kanälen oder in ihrem Online-Magazin „die gesunde kleinigkeit“.
Du erreichst Anne unter 0176 – 104 194 45 oder mail@annestosch.de
Fotos: privat
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