Corona Nostalgie: Darf man Lockdowns vermissen?
An manchen Tagen vergisst man, dass es eine Pandemie gab. Keine Masken, keine Zugangsbeschränkungen, keine Tests mehr. Das Ende der Maßnahmen, das so viele von uns herbeigesehnt haben, ist hier. Plus: Es entwickeln sich Gedanken und Online-Trends, die Lockdowns und weitere Einschränkungen als Teil einer wundervollen Zeit sehen. Gastautorin Jennifer Häuser beschreibt, was es mit dieser Corona Nostalgie auf sich hat.
Wer Verluste erleben musste – sei es durch den Tod von Angehörigen, den Verlust einer Arbeitsstelle oder körperliche Langzeitfolgen –, der reagiert wahrscheinlich etwas ungehalten auf diejenigen, die von Corona Nostalgie sprechen wollen. Dieses Unverständnis muss meiner Meinung nach erlaubt sein.
Die rosarote Brille für eine furchtbare Zeit
Das Problem mit dem Blick in die Vergangenheit ist: Er wird von unseren Erwartungen geprägt.
Wer Verluste erlebt hat, der schaut zurück und sieht die schlimmen Dinge, während positive Momente davon getrübt werden.
Wer in der Lockdown-Zeit etwas über sich selbst gelernt und eine positive Veränderung erlebt hat, der sieht die Zeit „rosiger“, vergisst vielleicht die schlechten Erlebnisse.
Es gibt also keine klare Antwort darauf, wie man auf die Coronazeit zurückblicken sollte. Aber woher kommt das Bedürfnis, die Lockdowns geradezu zu glorifizieren, wie es teilweise auf Plattformen wie TikTok geschieht?
Das Beste draus zu machen hat für viele funktioniert
Heute ist die Corona Pandemie für die meisten Menschen an Verlust und vor allem an gesellschaftlichen Diskurs gebunden. Im allerersten Lockdown sah das noch anders aus. Neben einem völlig absurden Bedeutungszuwachs von Klopapier waren die frühen Wochen und Monate der Pandemie von Zusammenhalt und Zuversicht geprägt. Junge Menschen kauften für ihre älteren Nachbarn ein. Erwachsene Kinder zogen wieder in ihre Elternhäuser. Medizinisches Personal wurde gefeiert – wenn auch nur an Fenstern.
Hinzu kam, dass ein Großteil der Bevölkerung aus ihren Routinen geworfen wurde. Was erst einmal beängstigend wirkte, hatte schnell Kreativität zur Folge. Lang aufgeschobene Projekte nahmen plötzlich Form an. Manch einer machte endlich wieder Sport, manch anderer entdeckte die Liebe zum Kochen wieder. Freunde und Kollegen trafen sich per Videochat oder gingen mit ausreichend Abstand spazieren.
In diesen Wochen fand man gefühlt für jedes Problem eine Lösung, während die Welt ein wenig leiser wurde.
Die Innenstädte brummten nicht mehr vor Lautstärke. In vielen Touristenregionen wie Venedig erholten sich Flora und Fauna. Weniger Menschen mussten für das Pendeln Stunden opfern. Das machte Zeit frei, die von vielen für die Familie genutzt wurde.
Was später aus Corona wurde – noch mehr Tote, Perspektivlosigkeit und Extremisierung in der Bevölkerung – das wünscht sich niemand. Aber sich an die frühe Phase zu erinnern und mehr Gutes als Schlechtes zu sehen, ist auch nicht so abwegig, wie es im ersten Moment klingt, denn:
Introvertierte Menschen leben nun wieder unter extrovertierten Regeln
Viele introvertierte Menschen durften in der Zeit der Lockdowns erleben, wie es ist, eine Persönlichkeitsstruktur zu besitzen, die ihnen Vorteile verschafft. Komplett auf soziale Kontakte zu verzichten, liegt natürlich auch den allermeisten Introvertierten nicht. Aber Menschen seltener treffen, sich nicht durch Menschenmassen zu quetschen oder eher auf Einzeltreffen setzen zu müssen? Das haben viele Introvertierte extrem genossen.

Jennifer, hier mit Familienhund Ferdi, schreibt einen Blog für Introvertierte.
Während Extrovertierte unter den Corona-Bedingungen zunächst nahezu sofort litten, dauerte es für Introvertierte viel länger, bis ihnen die Decke auf den Kopf fiel. Gerade für diejenigen, die von einem stark von Kollegen- oder Kundenkontakt geprägten Job in das Homeoffice wechselten, änderte sich plötzlich alles. Mehr Energie, weniger Stress. Wer sich vorher noch nicht aktiv damit beschäftigt hatte, wie er mit seiner sozialen Energie haushalten muss, erlebte eine kleine (oder große) Offenbarung – weniger Sozialkontakte bedeuteten mehr Zufriedenheit.
Auch mal nur für sich allein sein zu können, wurde plötzlich eine Stärke.
Das galt nicht exklusiv für Introvertierte. Auch hochsensible und neurodiverse Menschen erlebten plötzlich einen neuen Status quo, den so viele als furchtbar beschrien, während sie selbst völlig neue und positive Erfahrungen machten. Selbstbewusstsein und Zufriedenheit waren für viele die Folge. Was ist davon übriggeblieben?
Es braucht keine Nostalgie, es braucht Veränderung
Für mich ist klar: Vielen Menschen geht es ohne Maßnahmen der Coronazeit schlechter als mit. Denn sie müssen zurück in sie überfordernde Jobs. Sie quetschen sich in überfüllte Bahnen. Wenn sie Zeit für sich brauchen, müssen sie wieder auf Rechtfertigungen zurückgreifen. Sie wünschen sich keine Einschränkungen ihrer Rechte zurück und schon gar keine Krankheiten:
Wonach sie sich sehnen, ist eine Welt, in der sie sich (ironischerweise) freier und selbstbestimmter fühlten.
Die gute Nachricht dabei ist, dass jeder die Chance hat, diesen Zustand zurückzugewinnen. Ganz ohne die furchtbaren Folgen einer Pandemie. Dafür muss man sich zunächst erlauben, positive Gefühle für die Lockdowns zu empfinden. Zur Not auch heimlich. Dann kann im zweiten Schritt geschaut werden, was daran eigentlich so guttat.
Für introvertierte Menschen heißt das zum Beispiel: Sie sollten ihre Energie stärker beschützen. Es gibt diese Hilfe von außen nicht mehr, bei der Kontakte künstlich beschränkt werden. Also muss man es selbst tun, wenn man ansonsten vor Stress kaum das Leben genießen kann. Für diejenigen, die vor allem die Nähe zur Familie genossen haben, kann das bedeuten, einen Familientag in der Woche einzurichten. Oder Rituale wie gemeinsame Abendessen wieder ernster zu nehmen.
Wir können uns in Teilen die positiven Erfahrungen zurückholen, die uns manches Mal so sehnsüchtig zurückblicken lassen.
Rückblick, Ausblick und Fazit
„Hoffentlich schaffen wir es, dieses Selbstbewusstsein zu behalten. Damit wir auch nach dieser ganzen verrückten Phase sagen können: Hey, weißt du was, so wie ich bin, das ist genau richtig. Ich brauche keine Partys, viele Freunde oder Aufmerksamkeit, ich bin gerne etwas ruhiger und ich nutze meine Fähigkeiten auf andere Art.“
Diese Sätze stammen aus meinem letzten Artikel hier auf ohfamoos zum Thema Corona und Introversion. Und ich habe gleich eine zweite gute Nachricht parat:
Mit Blick auf Introvertierte sehe ich heute unglaublich viel Fortschritt.
Lockdowns waren eine solche Zäsur, dass mehr introvertierte und hochsensible Menschen Fragen stellten und stellen. Ein Prozess, der meines Erachtens anhält, denn auf jeden Introvertierten, der positive Lehren zog, kommt einer, der im gleichen Trott hängt wie vor der Pandemie.
Mein ohfamooses Fazit lautet: Corona Nostalgie mag manchmal fehlgeleitet sein; sie kann jedoch vielen Menschen, ob intro- oder extrovertiert, als Leitlinie dienen: Das eigene Leben bewusst schöner und/oder sinnvoller zu gestalten.
Aus so einer tragischen Zeit etwas gewinnen zu können, ist eine wertvolle Fähigkeit.
Gastautorin Jennifer Häuser ist als freiberufliche Texterin unterwegs und schreibt ganz nebenbei aus Leidenschaft einen Blog für Introvertierte. Auf Wanderlust Introvert schafft sie den Anlaufpunkt, den sie früher als junger Mensch selbst gebraucht hätte. Wenn sie gerade nicht in die Tasten haut, benötigt sie Natur und Tiere um sich herum, um sich wohlzufühlen und in dieser verrückten Welt zu bestehen.
Fotos privat
Ja ich vermisse die Zeit sehr. Ich hatte zum Glück keine persönlichen verluste aber privat war ich glücklich weil mal nicht allein. Jetzt ist alles wieder so hektisch und überfordert mich genauso wie vor der Pandemie. Ich stehe genauso da wie vorher nur alleine und gehe unter in dieser hektischen Welt. Es ist genau Wieder die selbe Konsum und Wegwerfmentalität wie vorher.