Von Berlin bis Griechenland
Heute beginnen wir die Tagebuchserie „Einmal Indien und Retour“ von Volker Raddatz. Alle drei Wochen kannst Du die mutige Reise von Volker und seinen drei Begleiter*innen mitverfolgen. Heute geht es von Berlin bis Griechenland über den Balkan. Jedes folgende Kapitel beschreibt einen Teilabschnitt der spannenden Reise und ist mit Fotos von Fritz Runge bebildert.
Berlin, 1. Oktober 2004
Der ganze Tag steht im Zeichen der Karawane. Morgens um 8:00 Treffen mit Fritz. Bus- Übergabe mit Total-Inventur. Die Aufteilung der Schränke und Fächer wird immer mehr zur Gedächtnisprobe: wo sind die Handtücher, die Büroklammern, die Medikamente? Wir werden uns schnell zurechtfinden. Fritz geht heute noch zum Friseur. Ich packe in aller Ruhe meine Klamotten ein und lasse mir viel Zeit dabei. Jetzt, so kurz vor der Abfahrt, kommt richtig Freude auf. Es wird eine kurze Nacht, denn morgen um 6:00 soll es losgehen – immer Richtung Osten …
Györ, 2. Oktober 2004
Pünktlich um 6:00 fahren wir ab. Nach einer Umarmung mit unseren Lieben geht es in die dunkle Nacht hinein, quer durch das verschlafene Berlin bis kurz vor Dresden, wo uns eine Umleitung so lange an der Nase herumführt, bis wir schließlich am Ausgangspunkt wieder ankommen: in 30 Minuten keinen Zentimeter gewonnen – wie sollen wir jemals nach Indien gelangen? Nun müssen wir mitten durch Dresden, haben aber Glück mit der Verkehrsdichte und sehen bei der Elbüberquerung immerhin die fertig gestellte Frauenkirche.
Hurtig geht es über die Grenze, und bald erreichen wir Prag, das sich allerdings nicht als Goldene Stadt, sondern als monotone Satelliten-Metropole präsentiert. Den Vogel in dieser Beziehung schießt jedoch Brno (Brünn) ab, dessen surrealistische Hochhauskulisse wie eine endlose Reihe hässlicher Zahnstümpfe in den Himmel ragt.
Am späten Nachmittag erreichen wir Bratislava und überqueren die Donau. Jede Grenzüberquerung wird begeistert abgeklatscht. Heutiges Etappenziel ist die schöne Stadt Györ, wo wir nach kurzem Rundgang ein schmackhaftes Gulasch einnehmen. Dazu bestellen wir – um die ungarischen Klischees vollzumachen – eine Flasche Tokaier.
Szeged, 3. Oktober 2004
Unser Tag beginnt um 6:30. Kaum ein Mensch auf der Straße, denn es ist Sonntag. Nebel liegt über dem kleinen Fluss, fast gespenstisch ragen die Festungsmauern von Györ in die Morgendämmerung hinein.
Nun geht es in Richtung Budapest, wo wir am frühen Vormittag bei strahlendem Sonnenschein eintreffen. Wir verbringen den Vormittag in der Altstadt von Pest und genießen das herrliche Brückenpanorama mit der bekannten Kettenbrücke als Hauptattraktion. Eindrucksvoll ist auch das Parlamentsgebäude, das ein wenig an den Palast von Westminster erinnert. Während wir das imposante Bauwerk bestaunen, tobt in den Straßen von Budapest der jährliche Marathonlauf.
Veles, 4. Oktober 2004
Bald sind wir im ehemaligen Jugoslawien, dem Rest dessen, was einmal Slowenien, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina umfasste. Vor uns liegen ca. 600 km Autoput, die berühmt-berüchtigte Verbindungsstraße von Mitteleuropa in die Türkei. Dort, wo die Fahrt gebührenfrei ist, lässt die Straßenqualität sehr zu wünschen übrig. Dort, wo das Fahren ein reines Vergnügen ist werden wir gnadenlos zur Kasse gebeten: so zahlen wir allein in Serbien 73 € Maut.
Die Landschaft ist zunächst flach und ziemlich eintönig. Im Unterschied zu Ungarn wirken viele Häuser heruntergekommen, ja regelrecht verfallen. Ausgesprochen schöne Fleckchen sieht man selten; die Überquerung der Donau bleibt eine Ausnahme.
Wir passieren Belgrad und bald darauf Nis, den großen Verkehrsknotenpunkt, wo es östlich nach Sophia, südlich nach Skopje und Thessaloniki geht. Es ist schon ein aufregender Moment, die griechische Hauptstadt Athen so frühzeitig auf einem Hinweisschild angekündigt zu sehen. Immerhin entspricht die Entfernung (780 km) etwa der Strecke Hamburg-München.
Nun, hinter Nis, ändert sich die Landschaft merklich: wir fahren 1 Stunde lang durch wunderschöne Gebirgsgegend, die Abendsonne scheint, und selbst die hohe Zahl der Schlaglöcher kann uns nicht die Stimmung verderben. Irgendwo entdecken wir ein altes Minarett; später, direkt an der Grenze, steht eine verfallene (zerschossene?) Moschee nicht weit entfernt von einer serbisch-orthodoxen Kirche.
Wir erinnern uns, dass der Kosovo-Krieg (Pristina liegt nicht weit entfernt von unserer Reiseroute) vor Jahren hier gewütet hat. Der nahe Grenzübergang zu Mazedonien (35 km nördlich von Skopje) ist uns noch aus unzähligen Nachrichtensendungen im Gedächtnis, weil dort alle lokalen Konflikte zusammentrafen:
Albaner contra Serben, NATO contra Serben, Albaner contra Mazedonier, dazwischen die internationale Schutztruppe, deren Kontingente auch heute noch sichtbar sind. Inzwischen hat sich das multi-ethnische Mazedonien trotz innerer Spannungen von Serbien gelöst und besitzt eine eigene, unverwechselbare Flagge.
Der Verkehr wird spärlicher; die ersten Lkw aus Griechenland und der Türkei tauchen auf. Den Übergang vom vertrauten, mitteleuropäischen Wohlstand zu den ungewohnten Lebensstandards der Fremde können wir hautnah registrieren: besonders markantes Signal ist eine „Autobahn-Toilette“, die sich als total versifftes Steh-Klo mit aufreizender Optik und beißendem Gestank präsentiert.
Als es schon dunkel wird, finden wir einen Übernachtungsplatz nicht weit von der Autobahn, ca. 120 km von der griechischen Grenze. Ein Motel-Besitzer, dessen Haus geschlossen ist, lässt uns freundlicherweise auf seinem Parkplatz stehen und meint: „Hier keine Banditen.“ Das freut uns sehr, und wir revanchieren uns mit 5 € Taschengeld für seinen Sohn. Nun sitzen wir gemütlich in unseren vier Wänden und hören – eher schlecht als recht – „Radio Mazedonia“.
Asprovalta, 5. Oktober 2004
Unmittelbar nach dem Start begegnet uns ein Eselskarren mit einem schnurrbärtigen Mazedonier, der uns freundlich zuwinkt. Nun geht es los Richtung griechische Grenze, die wir nach Durchquerung wilder Gebirgslandschaft mit reißenden Flüssen am späten Vormittag erreichen. Der Grenzübergang verändert schlagartig unser Bewusstsein: wir sind in einem Euro-Land, dem Gastgeber der Olympischen Spiele. Beste Stimmung herrscht unter den Grenzbeamten, deren Routinefrage „Wo soll es denn hingehen?“ wir ebenso routiniert mit „Indien“ beantworten und damit entweder Kopfschütteln oder Heiterkeit auslösen.
Wir freuen uns über strahlenden Sonnenschein und eine gute Straße ohne Maut, vorbei an Zypressen und Wacholder. Dann aber kommt das jähe Ende der Idylle: die Stadt Thessaloniki entpuppt sich als Mischung aus Geröll- und Müllhalde, so hässlich, dass wir auf ein Foto verzichten. Mit viel Mühe umgehen wir das Schlimmste und bewegen uns Richtung Mittelmeer, aber nur sehr langsam, da uns oft Lkw mit mächtiger Ladung und selbstbewussten Fahrern das Leben schwer machen. Schließlich sind wir auf freier Strecke, sehen Ziegen- und Schafherden und bemerken am Straßenrand winzige Kapellen und andere religiöse Symbole.
Vrisoula, 6. Oktober 2004
Der Tag bringt uns den Anblick eines Minaretts (türkische Minderheit in einem orthodoxen Umfeld) sowie einiger langgestreckter Baumwollfelder.
Im nächsten Abschnitt, der am 26. Juli erscheint, erreichen unsere Abenteurer die Türkei.
Und hier noch mal ein die Einleitung, für alle die die Geschichte des Tagebuchs noch nicht kennen.
Text: Volker Raddatz, Fotos: Fritz Runge