Sommerloch 2023 – Wacken oder Erde?
Wunderbar – endlich sind wir im Sommerloch angekommen! Schreibt Sabine Tonscheidt, Elkes Schwester, die hier ab und zu in die Tasten haut. In ihrer Kolumne „Mainung“ berichtet sie, wenn ihr danach ist, über das, was ihr im Alltag auffällt. Gern verbunden mit dem Ort, wo sie wohnt: Frankfurt am Main. Es kann jedoch auch ganz andere Ecken Deutschlands betreffen oder überregional sein. Dieses Mal beschäftigt sie sich mit: Wacken – und fragt: Wo und was ist das, Wacken?
Gefühlt mehrere Tage gab es Anfang August nur eine Nachricht: Wird Wacken wanken? Wie bitte – Wacken? Noch nie davon gehört? Ich ehrlich gesagt bislang auch nicht. Dabei ist es DAS Festival für alle Heavy-Metal-Fans. In diesem Jahr wurden 85.000 Fans in dem gleichnamigen Ort in Schleswig-Holstein erwartet. Dabei zählt das Dorf selbst nur 2025 (!) Einwohnerinnen und Einwohner.
Wacken beschäftigt sogar die Tagesschau
Und was bitte schön war jetzt die Nachricht, so dass selbst in der abendlichen Tagesschau mehrere Tage hintereinander dieses Musikfestival Schlagzeilen machte? Natürlich das Wetter – des Deutschen liebstes Kind (wenn man mal vom eigenen absieht). Nach wochenlangem Sonnenschein und Hitze kam es zu teilweise sturzbachähnlichen Niederschlägen, auch im hohen Norden, auch in Wacken. Und so verwandelte sich das Festivalgelände in eine riesige Matschfläche. Die Veranstalter von Wacken 2023 waren gezwungen, Fans nach Hause zu schicken oder erst gar nicht anreisen zu lassen. Was neuen Ärger und Frust produzierte – und schwuppdiwupp: Tagesschau und Co. hatten neuen Stoff für ihre Sommerloch-Berichterstattung.
Nein, ich bin nicht gegen Heavy-Metal und Menschen, die diese Musik hören und zu Festivals pilgern. Ganz im Gegenteil. Erst kürzlich war ich selbst zu einem Openair-Konzert gefahren – Musikrichtung allerdings eher softer Poprock made in Italy. Und ja, mir tun sie auch leid, die Fans, die seit Wochen ihrem Festival entgegenfiebern, das ja vor allem auch ein großartiges happening ist, ein Zusammenkommen unter Gleichgesinnten, gerade in der Post-Pandemie-Phase ein großes Vergnügen – zumal, wenn man sonst eher wenig besitzt, sowohl in Sachen Geld als auch in Sachen Freizeit.
Wo bleibt der Erdüberlastungstag?
Und doch musste ich mir ein paar Mal die Augen reiben: Denn heimlich, still und leise gab es noch eine Nachricht, die es Anfang August in die Abendnachrichten schaffte, aber vergleichsweise mit weniger Getöse. Dabei hat sie es ganz und gar in sich: Am 2. August war der diesjährige Erdüberlastungstag.
An diesem Tag, so die Berechnungen der Wissenschaft, hat die Weltbevölkerung für das laufende Jahr ihre Ressourcen bereits komplett aufgebraucht. Seit dem 2. August leben wir sozusagen weltweit auf Pump. Denn all das, was innerhalb eines Jahres nachwachsen könnte, ist futsch. Es wurden zum Beispiel mehr Bäume abgeholzt, als dass sie nachwachsen können, mehr CO2 in die Luft gepumpt, als Meere und Wälder aufnehmen können – ganze fünf Monate vor Ablauf des Jahres.
In Deutschland war die Überlastung sogar noch früher: Wir Deutschen hatten schon Anfang Mai unser „Pulver verschossen“ (angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine Formulierung, die ich nur in Anführungszeichen verwenden möchte).
Global betrachtet bräuchte die Menschheit 1,7 Erden, um weiterleben zu können. Wir Deutschen mit unserem Lebensstil leider fast drei.
Und warum kümmert uns das nicht gleichermaßen wie der Ärger und Frust Tausender Menschen, die ihr Live-Konzertereignis verpassen? Weil Erdüberlastungstag als typisch deutsches Wortungetüm weniger snappy klingt als Wacken 2023? Oder weil wir uns an solche Nachrichten bereits gewöhnt haben? Schließlich warnen Wissenschaftler*innen ja nicht erst seit gestern davor, dass die Menschheit sich zu wenig um Artenvielfalt und Klima kümmert, als sie sollte, wenn sie nachkommenden Generationen das Leben auf dem Planeten Erde noch einigermaßen vergnüglich gestalten möchte.
Einer der Anfang August interviewten Wissenschaftler drückte es so aus: „Die Handlungsverantwortung liegt wirklich bei allen, es sind sowohl Konzerne als auch die Politik als auch die einzelnen Menschen. Alles auf einmal muss passieren.“
Bringt also leider nichts, nur auf DIE Politik oder DIE bösen Konzerne zu schimpfen. Man muss sich an die eigene Nase packen. Kommt nicht drum herum, sich für sein Leben zu überlegen, wie man möglichst wenig Ressourcen verbraucht – ohne nur darauf zu warten, dass „die anderen“ doch bitteschön mal anfangen.
Öfter mal weniger Fleisch essen, damit anderswo auf der Welt riesige Waldflächen nicht Rindern oder deren Futtermittel weichen müssen? Lieber mal Zug, Bus oder Fahrrad fahren oder gar laufen, statt den eigenen Wagen zu nutzen und so den CO2-Ausstoß zu mindern? Auf den Wäschetrockner verzichten und die Wäsche auf die Leine oder den Wäscheständer hängen, um Strom zu sparen? Die tägliche Hygiene so umzustellen, dass einmal weniger duschen durchaus drin ist – zumindest außerhalb der Hitzezeit – und somit Wasser spart?
Wir Menschen sind erfinderischer, als wir es manchmal glauben oder wahrhaben wollen, weil wir dann unsere Komfortzone verlassen müssten.
Was mich nochmal zurück nach Wacken führt: Auch hier reagierten die Fans erfinderisch und improvisierten. Sie zogen kurzerhand ihre Schuhe aus und wateten im Schlamm. Fanden gar riesige Freude dabei, sich miteinander jauchzend in den Schlamm zu werfen. So viel Improvisationstalent und „mach-was-draus“-Mentalität würde man sich auch für unseren Planeten manchmal wünschen. Bis dahin denke ich darüber nach, wie man aus dem Wortungetüm Erdüberlastungstag etwas macht, dass mehr Menschen anspringt – so wie Wacken 2023.
Fotos: privat
Gastautorin Sabine Tonscheidt ist seit vielen Jahren in der internationalen Zusammenarbeit tätig. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Aktuell befindet sie sich in einer mehrmonatigen beruflichen Auszeit. Sabine liebt Fremdsprachen und Italien, wo sie vor vielen Jahren ein Auslandssemester verbracht hat, kocht (und isst) leidenschaftlich gern – und das am liebsten für und mit Gästen. In unregelmäßigen Abständen schreibt sie in dieser Kolumne darüber, was ihr an Kuriositäten und sonstigem auffällt – um sich und andere zum Nachdenken zu inspirieren.
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