Quer durch Anatolien und das wilde Kurdistan
Weiter geht die Reise mit dem Auto nach Indien, quer durch Anatolien. Im vierten Teil reisen unsere Abenteurer durch Kappadokien, Kayseri, Nemrut-Dagi, Diyarbakir, zum Vansee bis fast zur Grenze des Iran. Karl May würde sagen: Durch das wilde Kurdistan!
Göreme, 20. Oktober 2004
Heute Morgen gelangen wir trotz fehlender Beschilderung auf die Autobahn Richtung Ankara, die aber nach kurzer Zeit endet. Wie schon gestern vom Meer kommend, beobachten wir auch heute schwerstbeladene Lkw, die bei Auf- und Abstieg oft im Schritttempo voran kriechen, um nicht mit qualmenden Bremsen im Abgrund zu landen. Vielleicht wird auch deshalb so manches Fahrerhäuschen von dem Spruch Masallah („mit Allah“) geziert.
Auf der Fahrt Richtung Kappadokien stoppen wir im Ihlara-Tal, 100 m tief und 10 km lang, in der Mitte ein baumbestandener Fluss – wie ein Canyon. An den Steilhängen sind die Eingänge zu zahlreichen Felskapellen mit bestens erhaltenen Ornamenten.
Wenige Touristen, hauptsächlich Engländer, aber nicht die rosaroten, tätowierten Muskelpakete aus den Touristensilos am Mittelmeer, sondern echte ladies and gentlemen mit einem wunderbaren upper- middle-class accent, you know.
Wir fahren Richtung Nevsehir. Auf dem Wege sehen wir kleine Märkte entlang der Autostraße mit riesigen Weiß- und Wirsingkohlköpfen. Tourismus ade: wir sind in der anatolischen Türkei. Eine ältere Bäuerin kreuzt, ohne mit der Wimper zu zucken, die Landstraße, auf der die Lastwagen entlang donnern. Dabei treibt sie ihren Esel, der sich mit raschen Trippelschritten bewegt, immer wieder mit einem Stöckchen zur Eile an.
Stundenlanger Begleiter unserer Fahrt ist der Hasan Dagi (3260 m), der bald schneebedeckt sein wird. Apropos Schnee: ein Verkehrsschild verlangt für die Wintermonate das Anlegen von Ketten. Da wissen wir ja, was uns für die Rückfahrt durch die Türkei bevorsteht. Immer wieder treffen wir uniformierte Schulkinder, die uns freundlich zuwinken. Unsere türkischen und deutschen Flaggen am Wagen werden lebhaft kommentiert.
In Nevsehir gehen wir mal wieder groß einkaufen: Feigen, Schafskäse, türkische Wurst, türkischen Kuchen, dazu viel Wasser. Diesmal ist die Stimmung geradezu überschwänglich: Fritz wird von einem älteren Herren immer wieder auf den Rücken geklopft und in lange Gespräche über dessen Deutschland-Zeit verwickelt: „Braunschweig, Hildesheim, Goslar“ – so schnell kommen ihm seine Wohnorte und Arbeitsplätze über die Lippen. Ich dagegen plaudere ebenso herzlich mit dem Fleischverkäufer, der über beide Backen strahlt und sich mit seinen Deutschkenntnissen vor den staunenden Kollegen profiliert.
Schließlich gelangen wir bei leichtem Regen über Uchisar (majestätische Lage auf einem gewaltigen quadratischen Felsen, gekrönt von einer spitzen mittelalterlichen Tuffburg) nach Göreme, dem Zentrum Kappadokiens. Unser Standplatz könnte nicht schöner sein: wir stehen auf der obersten Terrasse einer fast menschenleeren Camping-Anlage, von der aus wir einen Panorama-Blick sowohl auf Uchisar als auch auf das Göreme-Tal haben mit seiner faszinierenden Anzahl von Tuffsteinen und Felsenkirchen, die meist nur über halsbrecherische Stiegen und enge Gänge erreichbar sind. Im Inneren sind auch diese Kapellen mit bunten Fresken geschmückt.
Nicht nur landschaftlich, sondern auch klimatisch haben wir einen spürbaren Wechsel vollzogen: die Hitze der Mittelmeer-Tage ist der Kühle der Berge gewichen – heute Abend herrschen 18° C, und es nieselt.
Göreme, 21. Oktober 2004
Im Waschraum begegnen wir einem Holländer, der allein per Motorrad nach Südafrika unterwegs ist. Wir sind bescheidener und fahren zunächst nach Avanos, wo die Töpferkunst ihren Schwerpunkt hat. Fritz geht für 250.000 türkische Lira ins WC – so preiswert ist es selten!
Ausgesprochen begeistert sind wir vom open-air-museum in Zelve, 6 km von Göreme entfernt. Hier verweilen wir in aller Gelassenheit mehrere Stunden und wandern gemächlich und detailverliebt durch einen modellhaften Ausschnitt von Kappadokien mit allen typischen Bestandteilen: Tuffgestein in den bizarrsten Formen („Feen-Kamine“, „Steinpilze“, „Hexengesichter“), aufgelockert und durchmischt von buntem Herbstlaub unterschiedlicher Bäume und – eine Besonderheit Kappadokiens – regionalen Weines.
Zur Geschichte dieser Gegend: durch Ausbrüche der Vulkane Erciyes (3916 m) und Hasan Dagi (3268 m) vor drei Millionen Jahren wurde die gesamte Nevsehir-Hochebene (ca. 1200 m hoch) mit Tuff bedeckt, einem weichen Stein aus Lava, Asche und Schlamm. Wind und Regen haben daraus eine surrealistische Felslandschaft geschaffen, deren Farben von leuchtendem Rot über gelbe und ockerfarbene Töne bis zum Grau-in-Grau reichen. Der Nationalpark Göreme offenbart eine Symbiose von Natur und Mensch. Die ersten Wohnstätten sind etwa um 4000 v. Chr. in die Felsen gehauen worden. Die frühen Christen, später die Byzantiner, haben Felsenklöster und kleine Kirchen hinzugefügt.
Nun fahren wir nach Kaymakli, eine der unterirdischen Städte im Süden von Nevsehir, die den Christen besonders im 7. Jh. Zuflucht vor ihren Verfolgern boten. In diesen sicheren Verstecken waren sie römischen Soldaten ebenso wie arabischen Invasoren und byzantinischen Bilderstürmern entkommen. Wir besichtigen tief unter der Erde einen solchen Ort, in dessen weitverzweigter Struktur man sich – ohne Hinweispfeile – hoffnungslos verlaufen würde. Auf mehreren Etagen sehen wir staunend das praktische Ergebnis dieser Überlebensstrategie: Vorratslager, Stallungen, Schlafräume, Küchen, Andachtstätten, Baderäume sowie eine hervorragende Belüftungsanlage.
Jetzt geht es nach Uchisar, wo wir jenen Turm besteigen, den wir gestern bei Dämmerung hoch über der Landschaft in den Blick bekommen hatten. Die Aussicht ist hervorragend, und wir bleiben noch ein Weilchen, um dem Ruf des Muezzin zu lauschen, dessen vielfaches Echo durch das ganze Tal getragen wird.
Damit ist für heute Feierabend. Wir kehren zurück auf unseren Panorama-Übernachtungsplatz mit herrlichem Blick auf die phantastischen Felsgebilde, Wellen aus geschliffenem Stein, Türme wie Zipfelmützen, kurz: auf jede erdenkliche Laune der Natur, die sich letzten Endes der Beschreibung entzieht.
Yesilkoy, 22. Oktober 2004
6:30 – das Innenthermometer zeigt 9° C. Die Standheizung bringt uns rasch auf 16° C.
Zuerst fahren wir nach Ortahisar, das einen ähnlich bizarren Turm besitzt wie Uchisar. Dann gelangen wir ins Rose Valley, wo wir – wie der Name suggeriert – die schönsten und farblich abwechslungsreichsten Ausblicke auf das immer wieder frappierende Tuffgestein haben.
Während Fritz die Lichteinwirkungen nutzt, um die Landschaft per Foto nuancenreich einzufangen, begebe ich mich auf die Wanderschaft tief hinunter ins Tal. So sehe ich diese eigenartige Welt auch einmal von unten – malerisch aufgelockert durch das bunte Herbstlaub, das uns auch die nächsten Stunden unserer Reise begleitet. Um die Mittagszeit machen wir in einer kleinen Konditorei in Ürgüp eine Tee- und Gebäckpause. Wie bisher ist auch hier die Herzlichkeit der Menschen überwältigend und motiviert uns immer wieder für unsere weitgesteckten Reisepläne.
Weiter geht es auf enger, aber landschaftlich schöner Straße Richtung Kayseri. Es herrscht geringer Verkehr, so dass wir uns auf kleine Eindrücke konzentrieren können: überall wächst Wein, und Dutzende von langschwänzigen Elstern kreuzen unseren Weg. Gelegentlich müssen wir Kühen und Schafen ausweichen. Nach Überquerung eines Passes (1500 m) fahren wir hinunter in die weite Ebene und sehen von nun an für längere Zeit den Vulkan Erciyes, dessen Gipfel verschneit ist.
Überhaupt wird – nur drei Tage nach Verlassen des Mittelmeeres – unser Bewusstsein für die kommende Winterzeit geschärft: immer wieder Schneeketten-Symbole, und nun auch entlang der nächsten Pass-Straße (1890 m) die an die Alpen erinnernden Schneehöhen-Stangen. Hinter Pinarbasi lassen wir es einmal drauf ankommen und fahren eine „Abkürzung“, die uns nach 200 km Gebirgsfahrt zum Ziel Nemrut Dagi bringen soll. Doch schon nach kurzer Zeit merken wir, wie schlecht diese Nebenstraße ist, was von den Einwohnern eines kleinen Dorfes bestätigt wird. Hier nämlich, in Sariz, werden wir mit großer Herzlichkeit und mit viel Erstaunen begrüßt: zuerst führt man uns in eine urige Bäckerei, wo zahlreiche Männer unmittelbar vor dem Backofen auf ihre Brotbestellungen warten. Trotz meiner wiederholten Bereitschaft, mich hinten anzustellen, genieße ich Vorzugsbehandlung und erhalte das nächste frische heiße Brot direkt aus der Backstube: 1 m lang, 20 cm breit, kein normales Weißbrot, sondern eine wirkliche Delikatesse, mit Fett etwas kross gebacken und leicht süßlich im Geschmack. Da uns, unter großem Gelächter der Wartenden, das ofenfrische Brot wie eine Frisbee-Scheibe zugeworfen wird, verbrennen wir uns fast die Finger an dieser ersten Kostprobe.
Nun werden wir von einem hilfsbereiten Motorradfahrer zur Hauptstraße geleitet. Mit seinem breiten Hintern fährt er vor uns her, winkt fröhlich und qualmt uns mit seinem stinkenden Auspuff völlig zu. Dennoch verabschieden wir uns herzlich und schenken ihm einige Kugelschreiber. Händeschütteln, Schulterklopfen, breites Lächeln und einige deutsche Brocken …
Unser Standort für heute Nacht liegt am Ende eines Dorfes, am Rande eines Feldes. Ungestört? Pustekuchen! Als es bereits stockdunkel, aber erst 19:00 ist, erscheinen zwei erstaunte Bauarbeiter, die nachts eine Ölleitung verlegen wollen (in 1 km Entfernung!) und stellen neugierige Fragen. Das freundliche Palaver endet mit der Überreichung einiger Kugelschreiber, und damit ist die Welt wieder in Ordnung.
Kleine Sprachschule: auf vielen Mülleimern in der Türkei steht das schöne Wort Kültür Müdürlügü, denn den Mülleimer hat das Kultusministerium spendiert.
Nemrut Dagi, 23. Oktober 2004
Heute Morgen um 6:00 beträgt die Innentemperatur ganze 5° C. Mit Hilfe der Standheizung, die ich mit einer halbverschlafenen Handbewegung anknipse, kommen wir nach 20 Minuten auf 15° C und können uns aus den Betten wagen. Doch das Frühstück verläuft diesmal nicht so gelassen wie sonst, denn einer der Bauarbeiter von gestern Abend ist dabei, mit einem riesigen Erdräumer zwischen uns und der Straße einen tiefen Graben zu ziehen. Die Lage scheint verzweifelt, aber nicht hoffnungslos. Nach dem Motto „Ende gut, alles gut“ schüttet er uns einen holprigen Übergang auf, und unser Bus ist schließlich auf der sicheren Seite. Der gute Mann erhält zum Dank einige Kugelschreiber – was sonst?! Mit großem Hallo werden wir verabschiedet und fahren durch schöne Landschaft nach Kahraman Maras. Dort lassen wir für 28 € einen kompletten Öl- und Filterwechsel durchführen und erleben eine der heitersten Stunden der bisherigen Reise: alle Angestellten der SHELL-Tankstelle eilen herbei, um unseren Bus zu betrachten und zu kommentieren. Auf dem Höhepunkt des lauten Palavers bringt man uns Stühle und drückt uns zahlreiche Lottoscheine in die Hand mit der Bitte, 6 Zahlen anzukreuzen – als Glücksbringer sozusagen. Jubel, Trubel, Heiterkeit bei jedem Ausfüllen, dazu deutsche und englische Brocken, die wir mit unseren paar türkischen Wörtern erwidern: teşekkür, güzel, evet und vor allem tamam. Beim Abschied schlägt man uns vor, auf der Rückfahrt wieder vorbeizuschauen. Übrigens spendiert man uns noch eine Wagenwäsche von Hand und zwei Erfrischungsgetränke.
Auf dem Weg nach Nemrut Dagi besuchen wir einen großen Markt mit Textilien, Schuhen, technischen Geräten und Lebensmitteln. Dabei fällt uns auf, dass viele Frauen (junge wie alte) kein Kopftuch tragen. Da wir jetzt im Kurdengebiet sind (Diyarbakir ist nicht mehr weit), mag dies der Grund sein. Was die Männer betrifft, so gibt es auch auf diesem Markt – wie überall in der Türkei – ein großes Angebot an dunklen Sakkos, die selbst von Schäfern und Traktorfahrern getragen werden.
Wir fahren weiter, überholen schrottreife, schräg liegende, völlig überladene Kleinlastwagen, die wie kranke Pferde die Berge hinaufschnaufen. Beim Überholen gibt es immer freundliche Blicke oder ein kurzes Hupen. Originell wirkt auch ein über und über mit Tabakblättern beladenes Motorrad mit Beiwagen. Zwischendurch immer wieder kleine Pferdewagen oder ein störrischer Esel, der die Befehle seines Herren stur verweigert, so dass beide am Rande der Autostraße eine regelrechte Kraftprobe austragen.
Kurz vor dem Abzweig nach Nemrut Dagi kommt, am weiten Horizont, der gewaltige Atatürk-Staudamm in den Blick, welcher das Wasser des Euphrat im Rahmen eines großen Erschließungsprojekts (GAP) reguliert. Dann biegen wir nach Norden ab und beginnen den Aufstieg nach durch Dörfer, in denen uns immer wieder Horden von Kindern begleiten und zuwinken. Die Straße, die immerhin der einzige Zugang zu einem weltberühmten Naturdenkmal ist, erweist sich als eine schlimme Herausforderung für Mensch und Maschine. Soll man sich so den Karakorum-Highway vorstellen?
Unsere Übernachtung findet auf einem ruhigen, schön gelegenen Campingplatz statt. Der Preis beträgt sensationelle 3.50 €, und das Abendessen („Gegessen wird um 19 Uhr!“), bestehend aus Suppe, Huhn, Couscous und Salat, kostet auch nur 3 €. Auf unserem kurzen Spaziergang begegnen wir Kindern, Kühen, Schafen, Ziegen, Hühnern und – natürlich – Eseln.
Nemrut Dagi, 24. Oktober 2004
Die restlichen 11 km bis zum Nemrut Dagi haben es in sich: die „Straße“ geht steil nach oben und ist in einem schlimmen Zustand: Löcher, Verwerfungen, spitze Steine, selten ein anderes Fahrzeug, so gut wie kein Tourismus. Endlich erreichen wir das weltberühmte Ziel und stellen unseren Bus auf die einzig ebene Fläche weit und breit: die Polizeistation, von der aus man einen fabelhaften Rundblick (u.a. auf das riesige Staudamm-Projekt) hat. Unsere Höhe beträgt 2150 m. Nun steigen wir bei bestem Wetter hinauf zum Gipfelplateau des Berges, wo König Antiochus I., Herrscher des Kleinstaates Kommagene (1. Jh. v. Chr.), eine riesige Kultstätte errichten ließ. Sie umfasst (als 8. Weltwunder) den Grabtumulus des Königs sowie Kolossalstatuen von Tier- und Menschengöttern, alle überlebensgroß und trotz der Einwirkungen von Naturgewalten recht gut erhalten.
Wegen der außergewöhnlichen Lage und des schönen Wetters beschließen wir, hier den Tag zu verbringen und auch zu übernachten. So besteigen wir gegen Abend den Berg ein zweites Mal und erleben – gemeinsam mit einer Handvoll Touristen (darunter einer allein reisenden Japanerin) – einen schönen Sonnenuntergang.
Dazwischen, am Nachmittag, liegt allerdings eine außergewöhnliche Episode: der Ministerpräsident der Region Adiyaman erscheint auf der Bildfläche und bringt das ruhige Fleckchen ganz schön in Fahrt: Soldaten, Polizisten und Beamte in Zivil springen beflissen hin und her und überbieten sich gegenseitig an Zuvorkommenheit. Die einfachen Soldaten geraten in emsige Betriebsamkeit, die Chefs lassen sich lässig bedienen – sogar zwei Frauen sind dabei, inmitten der türkischen Männergesellschaft! Auch vor uns macht das Protokoll nicht Halt, so dass wir mehrmals unseren Bus umparken müssen, ehe wir – als der ganze Spuk endlich vorbei ist – endgültig unseren Schlafplatz wieder einnehmen können. Angesichts des Massenaufgebots an Sicherheitskräften wundern wir uns, wie umgänglich das hohe Tier mit uns beiden Weltenbummlern plaudert und sich sogar zu einem Foto bereit erklärt.
Man stelle sich vor: wir übernachten auf dem Nemrut Dagi!
Silvan, 25. Oktober 2004
Wir stehen um 5:00 auf, frühstücken und steigen, nunmehr zum dritten Mal, auf den Nemrut Dagi, wo wir rechtzeitig zum Sonnenaufgang eintreffen. Gemeinsam mit 10 anderen Unentwegten nehmen wir Abschied von den 2000 Jahre alten Standbildern und kraxeln wieder zum Auto zurück. Die Abfahrt ist fast ebenso beschwerlich wie der gestrige Aufstieg: für 11 km brauchen wir eine geschlagene Stunde.
Dann geht es weiter zum Feribot, an dessen Anlegestelle wir ein Palaver mit kleinen Jungs haben, die zuerst money, money wollen, nach Empfang zweier Kugelschreiber aber ganz locker mit uns plaudern. So lernen wir mit ihrer Hilfe die türkischen Zahlen von 1 bis 10. Plötzlich kommt Unruhe in die kleine Fährstation, und wir bugsieren unseren Bus zusammen mit einem Laster und anderen Pkw auf die Fähre, die etwas klapprig wirkt, uns aber in kurzer Zeit über einen kleinen Teil des Atatürk-Stausees zum anderen Ufer bringt, wo wir unsere Fahrt fortsetzen.
Die gesamte Strecke bis Diyarbakir führt über eine Hochebene (1200 m) mit extrem karger und steiniger Landschaft, die nur gelegentlich durch fruchtbaren Boden aufgelockert wird. Dennoch sehen wir hier so viele Kühe (mehr als Schafe sogar), die offenbar extrem genügsam sind und sich von dem wenigen Grünzeug ernähren, das als Grasbüschel oder Distelstrauch selbst ums Überleben kämpft. So wundert es nicht, dass viele Kühe nur noch Haut und Knochen sind.
Natürlich bringt eine solche Reise auch immer etwas Unerwartetes: als wir an einer Tankstelle auf eine freie Zapfsäule warten, stürmen plötzlich ein Dutzend Kühe über das Gelände, ehe sie ihren Weg auf der Autostraße (!) fortsetzen. Auf der Weiterfahrt begegnen uns immer wieder Pferde- und Eselskarren, gesteuert von alten Männern mit kernig-zerfurchten Gesichtern und interessanten Kopfbedeckungen. Die Tiere quälen sich die bergige Straße empor, umso mehr, als die Lastkarren grotesk überladen sind: Hausrat, Gemüse, Obst, technisches Gerümpel – alles, was die Phantasie zu bieten hat.
Diese Beobachtung gilt noch viel drastischer für die zahlreichen Schwerlaster, die turmhohe Ladungen zu bewältigen haben, so dass sie in den Kurven extrem vorsichtig fahren müssen, um nicht umzukippen. Den Vogel abgeschossen haben zwei Türken, die auf ihren Sitzplätzen außerhalb des Fahrerhäuschens allen Schwankungen ausgesetzt sind, jedoch keinerlei Ängste verraten.
Diyarbakir – inoffizielle Hauptstadt der Kurden in der Türkei – verfügt über eine prächtig erhaltene Stadtmauer, innerhalb derer das lebhafte und reizvolle Zentrum liegt. Auf der Suche nach einem Postamt habe ich dieses Zentrum eher unfreiwillig im Laufschritt durchquert und für unser heutiges Abendessen etwas Tahini besorgt. Den großen Einkauf tätigen Fritz und ich bei MIGROS, einem der riesigen Konsumtempel, wo wir uns mit dem Lebensnotwendigen eindecken. Kreditkarten werden überall akzeptiert, sonst müssten wir noch mehr türkische Millionenbündel mit uns herumschleppen. Es fällt im Übrigen hier eine größere Polizei- und Militärpräsenz auf als anderswo: die vergangenen Auseinandersetzungen mit kurdischen Widerstandskämpfern hinterlassen eben noch immer ihre Spuren, z.B. in Form von plötzlichen Straßensperren und Polizeikontrollen. Wir zwei Alten werden jedoch immer freundlich durchgewinkt.
Unser Schlafplatz befindet sich auf einem großbäuerlichen Anwesen. Damit wir nicht als Eindringlinge gelten, suchen wir das „Gespräch“ mit (1) einem Traktorfahrer, der uns nach Inspektion des Busses (und Überwindung seines Misstrauens) sein o.k. (tamam) gibt; (2) dem Chef, der mit seinem Auto vorfährt und sehr freundlich um eine Erklärung bittet; (3) einem weiteren Besucher, der uns beim Abendessen überrascht und uns ebenfalls eine gute Nacht wünscht. Im Übrigen korrigiert er mein Kompliment an unser Gastland Türkei („Türkiye güzel“) nachdrücklich mit den Worten „Kurdistan güzel“.
Was sonst noch? Kühe auf dem Mittelstreifen der Durchgangsstraßen; bisher unbekannte flache Lehmhütten neben Häusern aus Stein und Glas; arabische Süßigkeiten, die an Syrien erinnern; arabische Begrüßungs-Mimik: die flache Hand wird zur Stirn geführt und dann ein weiter Bogen abwärts beschrieben.
Unser Gastgeber, Besitzer von 12.000 Hektar Land, heißt Fahri Karadeniz.
Tatvan/Gevas, 26. Oktober 2004
Am frühen Morgen erweist uns der Patron die Ehre, uns zu verabschieden. Dabei erzählt er – echt Kurde! -, dass er seine Truthähne nach „Turkistan“ (also in die Türkei) verkauft. Eben alles Ansichts-Sache.
In Silvan machen wir Halt und schlendern durch den Markt, dessen „buntes Treiben“ wörtlich zu nehmen ist. Das übliche Angebot an Gemüse und Obst (immer wieder riesige Weisskohlköpfe) wird diesmal ergänzt durch eine sehr appetitliche Fischauswahl, die vom Schwarzen Meer (Kara Deniz) stammt. Übrigens tauchen hier immer häufiger Schuhputzer auf, die dem Kunden während des Putzens ein Paar Ersatz-Sandalen anbieten.
Nun fahren wir tatsächlich durch das „wilde Kurdistan“ mit einem raschen Wechsel der Landschaftsformen. Niemals monoton, immer eindrucksvoll, manchmal auch wirklich umwerfend, z.B. bei tiefen Schluchten, die den Blick auf einen quirligen Fluss freigeben, z.B. beim Anblick des immer farbiger werdenden Herbstlaubs, das inzwischen das ganze Spektrum von grün über gelb und braun bis leuchtend rot abdeckt.
Während der Fahrt passieren wir zahlreiche, z.T. ausrangierte Kontrollposten mit der türkischen Flagge, aber auch aktuelle, also ernst zu nehmende Straßensperren (zweimal von Schützenpanzern gesichert), die uns immer wieder die Spannungen zwischen Türken und Kurden vor Augen führen bzw. in Erinnerung bringen.
Wir teilen uns weiter die Straße mit Lkw, ganz wenigen Reisebussen sowie mit Gänsen, Kühen, Schafen und Eseln. Erstmals sehen wir eine Hinweistafel in arabischer Schrift.
Um die Mittagszeit haben wir Glück, eine besonders ergiebige Wasserstelle (çesme) zu finden – eine Wohltat für Mensch (Reinigung mit Seife und Shampoo) und Maschine (Wasser bunkern). Neben den Wasserhähnen befindet sich ein komplett ausgestatteter Gebetsraum.
Wenig später fordert uns, ziemlich barsch und wortgewaltig, ein Straßenarbeiter auf, seinen alten Vater mitzunehmen. Der sitzt im Bus und grient verlegen, bis er sich nach 30 Minuten im nächsten Dorf verabschiedet und von uns fotografiert wird – vor unserer Deutschlandfahne.
Es geht weiter auf Straßen unterschiedlicher Beschaffenheit, aber eingebettet in eine unverändert reizvolle Gebirgslandschaft, deren Felsenfarben von grün über braun bis rötlich reichen. Am Straßenrand hocken Jugendliche, die in ausgedienten Ölkanistern große Mengen von Walnüssen zum Kauf anbieten. Auch Honig gibt es überall zu kaufen. Von der Vielzahl der täglichen Begegnungen lässt sich nur stellvertretend berichten: so beobachten wir irgendwo in der Wildnis mehrere Angler, die ein Netz über den rauschenden Fluss gespannt haben und ihre Fische begutachten. Sobald sie uns bemerken, grüßen sie geradezu überschwänglich und rufen „Almanya, Dortmund“ und dergleichen.
Der nächste Stopp findet im 1500 m hohen Bitlis statt – eine Mischung aus Lokalkolorit und Müllhalde. Fritz steigt auf eine Burg; ich spaziere zum Zentrum, d.h. auf den weiträumigen Markt, wo mir besonders das riesige Kartoffel-, Zwiebel- und (wiederum) Weißkohlangebot auffällt. Ich handele etwas und kaufe dann für 1 Million TL (1 Euro) zwei große Tüten mit Knoblauch, Schoten, Paprika und (angeblich milden) Peperoni, Zutaten für unser nächstes Abendessen. Dann spricht mich ein beredsamer Mann an, der sich als Bauingenieur vorstellt und fließend Englisch kann – sehr zur Bewunderung seiner Landsleute, die immer zahlreicher werden und einen großen Kreis um uns bilden. Im Übrigen sind die Teestübchen zwar, wie immer, von alten Männern besetzt – jedoch wird nichts verzehrt, denn es herrscht Ramadan (türkisch: Ramasan).
Nebenbei sehe ich, wie ein Mann seine volle Schubkarre mit allerlei Müll ohne Zögern und ohne schlechtes Gewissen in den „Fluss“ kippt. Des Weiteren spaziere ich über einen Schafs-und Ziegenmarkt, wo die Tiere auf ihr plötzliches Ende warten – ein tödliches Schicksal, das mir ganz freundschaftlich mit der bekannten Halsabschneider-Bewegung erklärt wird. Auffällig ist schließlich, dass Männer häufig paarweise untergehakt spazieren gehen – ein gemütlicher Anblick! Am späten Nachmittag erblicken wir den riesigen Van-See, der siebenmal so groß wie der Bodensee sein soll.
- Unser „Weltempfänger“ hat nicht viel zu bieten und ähnelt eher einem Zufallsgenerator. Vorhin meldete sich unvermittelt „Radio Österreich Eins“ und berichtete über belanglose Debatten im Wiener Parlament. Na, servus!
Muradiye, 27. Oktober 2004
Das war mal wieder eine kalte Nacht, sternklar, fast Vollmond, mit einer Frühtemperatur von 5° C. Die Heizung braucht 45 Minuten, um unseren Bus auf 14° C zu erwärmen. Bei den Frühstücks-Vorbereitungen überrascht uns ein wild aussehender Mann, der quer über die Felder mit umgehängtem Gewehr auf uns zu kommt. Zunächst verzieht er keine Miene und redet gestikulierend auf uns ein. Da wir kein Wort verstehen (auch das Wörterbuch hilft nicht viel), zeichnet er uns einige Umrisse auf ein Blatt Papier. Über die Bedeutung dieser Zeichen rätseln wir lange. Schließlich glauben wir, einen Minensucher getroffen zu haben, der uns möglicherweise warnen will, dass das Gelände vermint ist. Der Schreck ist groß, und wir machen uns rasch aus dem Staub. Unser Überraschungsgast erhält zwei Kugelschreiber; die angebotenen Weintrauben lehnt er mit Hinweis auf den Ramadan ab.
Wir fahren am Südufer des Van-Sees entlang und erreichen die kleine Insel Akdamar mit der bekannten Akdamar Kilise (Heiligkreuzkirche), die als kulturelles Wahrzeichen des Sees betrachtet wird. Bis 1464 war hier der Sitz des Katholikos, des geistlichen Oberhauptes der Armenier. Berühmt ist die Kirche auch wegen ihres einzigartigen Reliefschmucks an den Außenwänden. So verbinden sich in dem Gebäude islamische und nicht-islamische Elemente. Der Plan, uns mit einem Motorboot übersetzen zu lassen, scheitert an dem hohen Preis, obwohl die Insel (und damit auch die Kirche) zum Greifen nahe liegt. So betrachten wir die Kirche (kostenlos) mit dem Fernglas.
Wir gelangen bald nach Van, Provinzhauptstadt am Ostufer des Sees. Nach einer zweistündigen Internet-Sitzung (Hurra! Die iranische Botschaft hat endlich die versprochenen Universitäts-Kontakte hergestellt.) fahren wir ans Ufer des Sees und schauen uns die Zitadelle Van Kalesi an, Burgreste aus verschiedenen Epochen, von den Urartäern bis zu den Osmanen. Bemerkenswert sind einige Schrifttafeln in den Mauersteinen, die belegen, dass sich an dieser Stelle die Festung der urartäischen Siedlung Tuspa befand.
Heute sehen wir unser erstes Hinweisschild in Richtung Iran, doch wir haben noch einige hundert Kilometer durch die Nordost-Türkei vor uns.
Nach einem kurzen Abstecher in ein kleines Dorf mit flachen Lehmhütten (es liegt direkt am See), wo schüchterne Jungen und Mädchen langsam zutraulich werden und Fragen stellen, tanken wir preiswert (l Liter Diesel = 0.60 €) und suchen uns einen Standplatz, den uns diesmal der Zufall beschert: wir folgen einem kleinen Hinweis auf einen Wasserfall und ein Restaurant abseits der Fernstraße. Ersterer erweist sich – für türkische Verhältnisse – als tosendes Spektakel; letzteres ist nur über eine schwankende Hängebrücke zu erreichen. Dort angekommen, essen wir eine Kleinigkeit, werden vom Chef und seinem Sohn (sonst niemand da) zum çay eingeladen, schwanken zurück über die Brücke und freuen uns auf eine ruhige Nacht – trotz Wasserfall.
Dogubayazit, 28. Oktober 2004
Heute begegnen uns die ersten Busse mit iranischem Kennzeichen. Auf unserer Fahrt nach Norden fahren wir eine Zeitlang parallel zur iranischen Grenze, die auf den Hügeln verläuft. Dort sehen wir zahlreiche Wehrtürme. Ob sie besetzt sind, können wir nicht erkennen. Überall Schneereste und grünes Gestein (Lava?), so als hätte ein Riese sich erbrochen. Nach Überquerung eines Passes (2640 m) sehen wir – sehr verschwommen – den Ararat (Agri Dagi) mit seinen 5137 m. Seine Schneemütze liegt teilweise in den Wolken.
In Dogubayazit legen wir eine Pause ein. Die starke Militärpräsenz geht auf einen Familienstreit zurück, der offenbar kurz vor unserer Ankunft ausgebrochen ist. Schießereien sind nicht ausgeschlossen. Also schauen wir nur kurz beim Markt vorbei (hier werden zahlreiche Produkte bereits auf Türkisch und Arabisch bezeichnet, z.B. das Waschmittel Darja. Wir schnuppern in eine Bäckerei hinein und stellen fest, dass das Lebensmittelangebot auf den Märkten sehr üppig ist.
Dann fahren wir den Berg hinauf und besichtigen die Ishak Pasa Sarayi, ein märchenhaftes Schloss mit Bad (Hamam), Harem, Bibliothek, Weinkellern, Gefängnissen und Lustgärten, das sich ein lokaler Fürst Ende des 18. Jh. errichten ließ. In den angeblich 99 Jahren Bauzeit wurde auf fast alle damals bekannten Baustile Bezug genommen, von armenisch-georgisch über seldschukisch bis barock-osmanisch.
Auf dem Parkplatz treffen wir ein unternehmungslustiges Pärchen: er Schweizer, sie Neuseeländerin. Beide fahren in einem alten VW-Bus Richtung Kathmandu. Vielleicht treffen wir uns noch einmal wieder. Nun geht es einige Kilometer Richtung Norden, um dem Ararat näher zu kommen.
Er zeigt sich unverändert wolkenumhüllt, so dass wir schließlich umkehren (die Straße führt übrigens nach Armenien, dessen Hauptstadt Eriwan nicht allzu weit entfernt liegt) und machen an einem eigenartigen Dorf Halt, das in einer tiefen, langgezogenen Mulde unterhalb der Autostraße liegt. Ein seltsames Ensemble aus grasbewachsenen Steinmauern, die den Wind abhalten und das Eigentum markieren. Dazwischen strohgedeckte Hütten aus Lehm und Stein, geduckte Behausungen, an die sich riesige Strohballen, größer als die Hütten selbst, anschließen. Überall hängt Wäsche, aus primitiven Ofenrohren steigt Qualm empor, und es riecht verbrannt. Dazwischen allerlei Getier in den schmalen Gassen, viele Kinder, die beim Anblick unseres Busses den Hügel hinaufgestürmt kommen und sich lebhaft um uns scharen. Kein Wunder, dass unsere Kugelschreiber-Vorräte rasant abnehmen. Derartige Dörfer sehen wir heute erneut, diesmal mit jurte-ähnlichen Zelten.
Da wir eigentlich kurz vor der Grenze übernachten wollen, dort aber weder Standplatz noch Tankstelle sehen (es wird geraten, mit vollem Tank in den Iran zu fahren, da die Dieselversorgung an der Grenze schlecht ist), fahren wir zurück nach Dogubayazit, tanken und übernachten auf dem Parkplatz eines Hotels. Für die letzten TL kaufen wir uns ein Glas Wein, das wir zum selbstgekochten Lamm-Eintopf trinken.
Wie es weitergeht? Das erfährst Du am 27. September 2023
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