Die Kunst des Debattierens und Momo
Wie debattierfähig ist Deutschland? Wenn Gastautorin Sabine Tonscheidt Talkshows im Fernsehen guckt, kommt Skepsis bei ihr auf. Immer drauf – das scheint da vorherrschendes Prinzip zu sein. Dabei sind echte Debatten für den Erhalt der Demokratie wichtig, genauso wie das Zuhören. Keine kann das so gut wie Momo… die derzeit wieder ganz aktuell ist – in Frankfurt nämlich, woher uns diese Main-Kolumne erreicht.
Es ist der Krieg nach dem schändlichen und verurteilungswerten Überfall der Hamas auf Israel, der mich dazu bringt, über so vieles nachzudenken. Nach einiger Zeitungs-Lektüre und wenigen Talkshows im Fernsehen kommt mir ein Phänomen in den Sinn, das mich schon seit einiger Zeit umtreibt: die Debattenkultur, nein, die Debattenfähigkeit in Deutschland.
Debattieren kommt laut Duden vom „französisch débattre = durchsprechen, den Gegner mit Worten schlagen“. Der Duden ergänzt: „über das Vulgärlateinische zu lateinisch battuere = schlagen.“
Klären Talkshows wirklich auf?
In manchen, zu vielen Talkshows im Fernsehen fühlt es sich in diesen, aber auch in anderen politisch brisanten Zeiten für mich genau so an: (Vermeintliche) Expert*innen werden auf ein Panel geladen, damit sie sich – mit Worten – schlagen. Das soll den Zuschauer*innen offenbar gefallen, wenn es möglichst hoch her geht. Sie treffen nach meiner Wahrnehmung weniger aufeinander, um – wie der Duden eben auch schreibt – etwas „durchzusprechen“. Damit in der Konsequenz beim Zuschauer so etwas geschehen kann wie: ‚Ah, das wusste ich noch nicht.‘ Oder: ‚So habe ich das bisher noch nicht gesehen.‘
Genau diese Aufklärung, diesen Informations- und Wissenszugewinn gilt es aber doch gerade in Zeiten, in denen Fake News viel zu oft und viel zu viel die Runde machen, in den Blick zu nehmen. Damit wir die Komplexität hinter politisch und menschlich so wichtigen Themen wie dem Krieg Russlands gegen die Ukraine oder eben den Krieg im Nahen Osten besser verstehen können. Oder etwa nicht?
Experten für die Quote
Viel zu oft nehme ich wahr, dass im Fernsehen zwei oder mehrere derart kontroverse und möglichst renommierte Gesprächspartner eingeladen werden, um mit deren Bekanntheitsgrad und mit ihrer erwartbaren Auseinandersetzung zusätzlich Quote zu machen. Denn es herrscht natürlich ein immenser Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Zuhörer- und Zuschauerinnen, Fernsehen ist längst ein Business. Ja, ich gehöre zu denen, die glauben, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen bisweilen noch eine andere Qualität sucht – und teilweise auch umsetzt. Dafür bin ich gerne bereit, Gebühren zu zahlen (aber dieses Fass möchte ich jetzt nicht aufmachen). Und doch: Ich zweifele insgesamt daran, ob im Fernsehen wie im Freundes- und Familienkreis noch ernsthaft genug und ausreichend debattiert und um eine Sache gerungen wird. Das ist für mich unbedingter Teil einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft.
Falsche Rücksicht?
Wem ist es nicht schon einmal so ergangen? Bevor man einer Esseneinladung mit Freunden folgt, sagt der Partner einem: „Sprich bloß nicht dieses Thema an, das macht xy immer fuchsteufelswild und wir haben dann nichts vom Abend.“ Oder: „Schlimm, wie die wieder über die ‚Schwarzgelockten‘ hergezogen haben, aber jenseits deren politischer Einstellung sind die ja ganz okay.“ Oder: „Ich schaue mir schon längst keine Nachrichten oder Talkshows mehr an, da kommt ja immer derselbe, negative Kram.“
Stumm werden ist keine Lösung…
Doch: Stumm werden, ausladen oder abschalten ist keine Lösung. Wir müssen uns den Argumenten stellen. Uns mit dem jeweils Anderen auseinandersetzen. Nicht stündlich und täglich, aber wenn, dann konsequent. Und: Wir sollten partout nicht um uns schlagen. Weder verbal und schon gar nicht physisch. Sondern wir müssen wieder mehr das Debattieren lernen, und zwar das faktenbasierte.
… Debatten in sozialen Medien ebensowenig
Politische Debatten auf sozialen Medien führen? Aus meiner Sicht: sinnlos. Hier gelten andere Regeln: Schnelligkeit, Emotionalität, Kürze. Das alles ist nicht vereinbar mit dem Kern einer wirklich ernsthaft geführten Debatte. Die braucht auch ein menschliches Gegenüber, und zwar physisch. Zu oft erlebe ich bei gut verfassten und sicher gut gemeinten Beiträgen beispielsweise auf LinkedIn, dass diejenigen, die kommentieren, kaum auf das Geschriebene reagieren. Vielmehr stellen sie einfach ihre eigenen Positionen zum Thema ins Schaufenster. Position trifft auf Position – Debatte somit ausgeschlossen.
Speakers Corner als Vorbild
Dennoch: Zuversichtlich stimmt mich, dass ich bei der Recherche zum Thema doch auf ein paar positive Hinweise gestoßen bin. Zum einen: Es gibt Debattierclubs an Hochschulen und an Schulen. Ja, gerade junge Menschen (Achtung: Auftrag an alle Lehrer*innen!) sollten lernen, wie das geht: sich mit einem Thema intensiv zu beschäftigen, es kritisch zu durchleuchten, Fakten zu sammeln und Argumente für und wider zu finden – und es dann in einer Rede präsentieren und dafür stehen. Nichts anderes hatte und hat der große und ehrenwerte Speakers Corner im Londoner Hydepark im Sinn, der schon 1872 auf Parlamentsbeschluss eingeführt wurde. Ich war zu lange nicht mehr in London, um sagen zu können, ob er auch heute noch funktioniert, aber ich hoffe es sehr.
Momo und die Kunst des Zuhörens
Und zum zweiten: Am Frankfurter Schauspiel wird dieser Tage ein Stück aufgeführt, das sich mit dem zweiten, unabdingbaren Element einer Debatte beschäftigt: dem Zuhören. Es ist das Theaterstück „Momo“ nach dem wundervollen Roman von Michael Ende. In der Beschreibung von Momos Kunst – dem Zuhören – heißt es da: „Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.“
Vielleicht gibt es die Hoffnung auf mehr Momo…
Links:
Das Theaterstück Momo möchte sich Sabine unbedingt noch anschauen, am liebsten mit ihrem Neffen; die Beschreibung zum Stück findet sich hier. Wunderbar vorgelesen übrigens von Uwe Zerver – dafür braucht es rund sechs Minuten des Zuhörens.
Wieder aufgetaucht bei der Recherche: Jugend debattiert. War das nicht eine Erfindung aus den 80ern? Nein, offenbar wurde es als Pilotprojekt 2001 an Frankfurter Schulen erprobt und dann ausgeweitet. Schirmherr hier: der Bundespräsident.
Mehr Infos zu Debattierclubs an Hochschulen finden sich u.a. hier: https://www.vdch.de/was-ist-debattieren/ und: https://stud.uni-leipzig.de/streitpunkt/das-debattieren/
Zuletzt ein Filmtipp: Der Film „Contra“ mit dem Schauspieler Claus Maria Herbst aus dem Jahr 2021 ist unbedingt sehenswert – weil er sich mit dem Thema Rassismus UND der Kunst des Debattierens auseinandersetzt. Gedreht übrigens an der Uni in Frankfurt… Der Trailer findet sich hier.
Foto: Canva
Ein sehr guter Beitrag, Danke!