Das Gute muss siegen, es wird siegen
1000 Tage Krieg. Diese Zahl ging vor ein paar Tagen quer durch die Medien. 1000 Tage, das sind 24.000 Stunden oder 1.440.000 Minuten. Eine schier unvorstellbare Zeit. Es ist die Zeit, in der sich Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainer nun schon im Krieg befinden. Einen Krieg, den die Ukraine nicht begonnen, nicht gewollt hat. In dem sie sich nun verteidigen muss, mit allem, was sie hat. Und mit allem, was sie von ihren westlichen Verbündeten erwarten kann. Wie lebt es sich nach diesen 1000 Tagen Krieg in Deutschland, als Ehefrau, Mutter, Großmutter? Wir haben nachgefragt bei Iryna, die als 52jährige im März 2022 mit ihrer damals 15jährigen Tochter nach Frankfurt kam. Sie ist eine von rund 1,3 Millionen Ukrainerinnen, die in Deutschland leben, weil sie seit dem 24. Februar 2022 ihr Land verlassen und sich in der Fremde eine neue Existenz aufbauen mussten.
Ohfamoos: Iryna, wie schaust Du heute auf zweieinhalb Jahre Leben in Deutschland?
Iryna: Es ist schwierig, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu geben. Zunächst einmal waren und sind es schwierige Jahre. Für mich war Deutschland ein fremdes Land, eine fremde Kultur mit einer für mich völlig fremden Sprache. Sogar die Luft ist fremd. Ich vergleiche mich oft mit einer Blume, die aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und in einen völlig anderen Raum gesetzt wurde, ohne ihren gewohnten Boden.
Diese Gefühl, entwurzelt zu sein, hattest Du auch?
Ja, genau dieses Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben. Und all das wurde noch verschlimmert dadurch, dass es hier keine Verwandte und Freunde in der Nähe gibt und dass ich die deutsche Sprache noch nicht beherrsche. Zudem gibt es große Unterschiede in der Mentalität, und auch die kulturellen, sozialen und alltäglichen Gewohnheiten von Ukrainern und Deutschen unterscheiden sich zum Teil erheblich. Zum anderen aber waren und sind es auch interessante Jahre: eine neue Erfahrung, neue Bekanntschaften, eine neue Arbeit, erste Erfahrungen mit einer neuen Fremdsprache und vieles mehr.
Und dann ist da noch die Unsicherheit: Es gibt für mich immer noch kein Gefühl von Heimat…. Und wahrscheinlich ist es genau dieses Bedürfnis, das uns antreibt, wenn wir ab und zu für ein paar Tage oder Wochen zurück in die Ukraine fahren, ungeachtet der Gefahr. Wie jeder Mensch wollen auch wir uns zu Hause fühlen, an einem Ort der Kraft und der Liebe.
Welches waren schöne Momente für Dich?
Iryna: Das wohl Unglaublichste und Schönste, was uns in diesen 2,5 Jahren passiert ist, ist, dass wir hier Menschen gefunden haben, die uns wirklich ans Herz gewachsen sind – Sabine und Oliver. Sie sind Menschen, die Liebe und Licht bringen. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie viel Mitgefühl und Geduld es braucht, um zwei völlig fremde Menschen über ein Jahr lang in seiner Wohnung zu dulden. Und das nicht nur, um sie zu ertragen, sondern um sie ständig zu unterstützen und ihnen zu helfen. Sie helfen immer noch und machen sich Sorgen um uns.
Diese Unterstützung kann man nicht beschreiben, weil es einfach nicht genug Worte gibt.
Und im Allgemeinen habe ich das große Glück, von guten Menschen umgeben zu sein: Lena, die mich und meine Tochter als erste in ihrer Wohnung aufgenommen hat und mich mit unglaublich wertvollen Menschen bekannt gemacht hat, die als ehrenamtliche Helfer Ukrainern und der Ukraine geholfen haben und dies immer noch tun. Und da sind auch die Menschen, die beim Vorstellungsgespräch an mich geglaubt und mich eingestellt haben. Meine Kolleginnen und Kollegen, die mich unterstützt haben. Meine Deutschlehrer und meine Mitschülerinnen, die herzlich und freundlich sind.
Wie sehr fühlst Du Dich in der deutschen Gesellschaft integriert?
Natürlich bin ich noch nicht zu 100 Prozent integriert. Das größte Hindernis sind immer noch meine unzureichenden Deutschkenntnisse, weil ich dadurch nicht alle meine Kenntnisse und Fähigkeiten zeigen kann. Allerdings arbeite ich seit mehr als zwei Jahren in einem deutschen Kindergarten. Und das ist übrigens auch eine erstaunliche Geschichte. Zu der Zeit, als mir fast jeder sagte, dass es unmöglich sei, in Deutschland einen Job zu bekommen, ohne die Sprache zu beherrschen, habe ich Briefe mit meinem Lebenslauf an alle möglichen Unternehmen geschickt.
Und eines Tages wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Die Leute, die das Gespräch führten, glaubten an mich und stellten mich als Erzieherin ein. Und das beweist einmal mehr, dass alle unmöglichen Dinge möglich sind.
Wie denkst Du über das Thema Beschäftigung und Integration in den deutschen Arbeitsalltag?
Ich glaube, dass jeder Mensch, der aus welchen Gründen auch immer in einem anderen Land lebt, sich integrieren, die Sprache lernen und arbeiten muss und der Gesellschaft, die ihn aufgenommen hat, nützen soll. In Deutschland ist diese Integration jedoch nicht einfach, um es vorsichtig auszudrücken. Und das Problem liegt nicht nur an den Sprachkenntnissen …
… sondern?
Ich stand zum Beispiel vor einem solchen Problem: Ich habe mein Studium an einer staatlichen Universität in der Ukraine als Lehrerin für Chemie und Biologie und als Mikrobiologin abgeschlossen. Außerdem verfüge ich über mehr als zehn Jahre pädagogischer Erfahrung in der Arbeit mit Kindern im Alter von 2,5 bis 18 Jahren – die zwei Jahre Arbeit in Deutschland in einem staatlichen Kindergarten eingerechnet. Um jedoch weiterhin in einem Kindergarten als Erzieherin arbeiten zu können, muss ich nun, zwei Jahre später, erneut eine Ausbildung absolvieren. Für mich ist diese Situation absurd. Ich kann nicht verstehen, warum es keine Möglichkeit gibt, den Unterschied in einigen Punkten, die mir für diesen Job fehlen, einfach nachzuholen, statt die komplette Ausbildung anzuhängen.
Und solche Situationen gibt es leider sehr viele. Es gibt zu viel Bürokratie, die die Menschen daran hindert, sich selbst zu entwickeln und dabei auch das Land zu entwickeln. Außerdem gibt es viele Vorschriften, die womöglich viele Jahre lang erfolgreich waren, jetzt aber veraltet sind. Die Welt verändert sich, und zwar sehr schnell…
Was gefällt Dir an Deinem Beruf als Erzieherin?
Die Arbeit mit Kindern ist ein täglicher Energieschub. Kinder sind kleine Menschen, die noch sehr offen und freundlich sind und ein großes Herz haben. Ich liebe es, mit Kindern zu arbeiten und zu sehen, wie sie sich entwickeln. Ich interessiere mich auch sehr für die Arbeit mit „besonderen“, wie z. B. autistischen Kindern. Die Arbeit mit ihnen ist noch lohnender, und ihr Erfolg bei der Sozialisierung und Entwicklung gibt mir mehr Kraft und Lust, etwas zu tun und zu verändern.
Es gibt Dinge, die ich an dem deutschen Erziehungssystem mit kleinen Kindern sehr mag. Mir gefällt zum Beispiel sehr, dass in den hiesigen Kindergärten Kinder verschiedener Altersklassen in einer Gruppe sind: Kinder von drei bis sechs Jahren etwa. Dies ist eine einzigartige Gelegenheit für beide Seiten: Die jüngeren Kinder wollen lernen und das Niveau der älteren Kinder erreichen, und die älteren Kinder lernen, sich um die jüngeren zu kümmern und ihnen zu helfen. Ich würde empfehlen, diese Praxis auch in der Ukraine anzuwenden.
Was ist Dir noch aufgefallen?
Wie jedes System hat jedoch auch die deutsche Pädagogik neben den Vor- auch Nachteile. Zum Beispiel gibt es meiner Meinung nach im deutschen System der Kleinkindererziehung zu wenig Möglichkeiten für die frühe Entwicklung in Sport, Tanz oder Theater. In der Ukraine gibt es in jedem Kindergarten täglich Gruppensportunterricht, Tanzunterricht und ein Programm zur Vorbereitung von Kinderkonzerten für große Feiern. Das fehlt meines Erachtens in deutschen Kindergärten sehr stark. Und es gibt noch viel mehr Details, über die ich stundenlang reden könnte, es ist nur schade, dass ich noch nicht genug deutsche Vokabeln habe…
Worauf blickst Du mit Bangen oder Besorgnis?
Natürlich in erster Linie auf die Zukunft meiner Ukraine. Vor dem Krieg hatte sich mein Land aktiv entwickelt. Ich kann nicht für alle Ukrainer sprechen, aber wir hatten ein sehr gutes Leben. Einen Lieblingsjob, ein eigenes Haus, einen Lieblingsgarten, Urlaub am Meer in einem beliebigen Land. Der Krieg hat das Leben von Millionen von Menschen zerstört. Und natürlich träume ich davon, dass die Ukraine dieses Übel besiegen wird und dass die Menschen in meinem Land wieder frei und glücklich leben. Hier geht es um sehr globale Dinge.
Wenn wir über einfache alltägliche Dinge sprechen, die mich im Moment beunruhigen, dann ist es vor allem die Suche nach einer Wohnung. Es ist bekannt, dass es in Frankfurt nicht nur teuer, sondern auch schwierig ist, eine Wohnung zu finden.
Und vielleicht haben die Vermieter Angst, an Ausländer zu vermieten. Deshalb antworten sie oft nicht einmal auf E-Mails.
Woher nimmst Du trotz allem Kraft und Zuversicht?
Von den Menschen, von den Kindern, von dem, was ich tue, von meiner ehrenamtlichen Arbeit. Auch meine Samstage geben mir sehr viel Energie. Jeden Samstag gebe ich Sport- und Tanzunterricht für ukrainische Migranten. In diesen Momenten habe ich das Gefühl, in eine vertraute Umgebung einzutauchen, eine Umgebung des Glücks, denn ich liebe diese Tätigkeit sehr und bin sehr stolz darauf, zu sehen, wie sich die Menschen körperlich entwickeln und wie glücklich sie nach diesen Kursen sind.
Wie schaffst Du es, ohne Mann und ohne Sohn weit weg von zu Hause zu leben?
Es ist schwer. Ich weiß nicht einmal, wie ich diese Frage beantworten, wie ich meine Gefühle und Gedanken vermitteln soll. Natürlich ist es möglich, über eine Videoverbindung miteinander zu sprechen oder einfach anzurufen und zu schreiben. Das ist schon ein großer Segen. Aber in jeder Familie sind taktile Beziehungen immer noch sehr wichtig: Umarmungen, ein gemeinsames Frühstück oder Abendessen, Küsse und viele andere Dinge, die mir jetzt einfach nicht zur Verfügung stehen.
Du hast auch von Schuldgefühlen gesprochen …
Ja! Große und schwer erklärbare. Schuldgefühle, dass ich in Ruhe schlafen kann, während mein Sohn und seine Familie, mein Mann, meine Schwester und ihre Familie, meine Lieben jeden Tag in ständiger Gefahr sind, täglich bombardiert werden. Wenn ich die Nachrichten aus der Ukraine lese, schäme ich mich, dass ich mich manchmal beschwere, dass ich es in Deutschland in mancher Hinsicht schwer habe. Und ich schäme mich dafür, dass ich mich über manche Dinge freue, obwohl zur gleichen Zeit jemand bei der Verteidigung meiner Heimat stirbt. Es ist schwer zu erklären.
Wahrscheinlich wird ein Mensch, der in einem friedlichen Land lebt, dieses Gefühl nie verstehen können.
Es ist schwer zu verstehen, wie es ist, in einem Krieg zu leben, wie es ist, mit seinen Kindern in kalten Kellern oder U-Bahnen zu schlafen und sich vor Granaten zu verstecken, oder wie es ist, Luftangriffsalarm zu hören. Ich habe es auch nicht verstanden, bis ich selbst in dieses Grauen hineingeraten bin.
Was wünscht Du Dir – für die Ukraine und für Dich hier in Deutschland?
Aktuell haben die meisten Ukrainer – mich eingeschlossen – den wichtigsten Wunsch: den Sieg der Ukraine in diesem schrecklichen Krieg sowie Frieden und Freiheit in unserem Heimatland. Was würde ich mir für das deutsche Volk wünschen? Dass es nie wieder erfahren und erleben muss, was Krieg ist.
Meinst Du, viele haben das vergessen?
Leider ist vielen Deutschen nicht bewusst, dass der Krieg viel näher ist, als sie denken. Und es ist die Ukraine, die jetzt der Schild ist, der die „raschistischen“[1] Horden noch zurückhält. Die Ukraine braucht die Hilfe Deutschlands jetzt mehr denn je. Der Krieg ist nah. Er findet bereits innerhalb der EU statt. Schauen Sie sich um, es gibt „russen“, die seit 20 oder 30 Jahren in Deutschland leben, die nicht in ihr „russland“[2] zurückkehren wollen. Und die gleichzeitig „putlers“ Regime – Assoziation mit Hitler – verherrlichen und Deutschland hassen, wo sie aber doch leben und das ihnen Schutz und alle Vorteile bietet. Tickt da nicht eine Zeitbombe?
Allen Ukrainern, die jetzt im Ausland leben müssen, wünsche ich Kraft und Geduld. Gebt nicht auf! Und egal, ob sie in die Ukraine zurückkehren oder im Ausland bleiben werden: Vergesst die Ukraine nicht, liebt, schätzt und unterstützt Euer Heimatland, Eure Wurzeln, Sprache und Kultur.
Welche Geschichte möchtest Du uns über das Leben in Frankfurt noch mitgeben?
Dank meiner mangelnden Deutschkenntnisse habe ich eine Menge solcher Geschichten… Zum Beispiel, wenn ich Wörter durcheinandergeworfen oder deutsche Wörter mit ukrainischen Wörtern verwechselt habe. Die Deutschen sind sehr kultivierte Menschen und haben mir manchmal nicht gesagt, dass ich etwas Falsches oder Komisches gesagt habe. Erst am Gesichtsausdruck des Gegenübers merkte ich, dass etwas nicht stimmte, und begann in meinem Kopf nach dem richtigen Wort zu suchen. Meine Emotionalität hat die Deutschen manchmal erschreckt, und dann sind einige seltsame Dinge passiert.
Hast Du ein konkretes Beispiel?
Einmal war ich zum Beispiel auf dem Weg zu einem Freiwilligentreffen mit einer Gruppe ukrainischer Kinder. Wegen der Streiks wurde die Verkehrsführung geändert. Da ich mich damals noch nicht gut in Frankfurt orientieren konnte, kam ich an einem mir völlig fremden Ort aus. Schließlich erreichte ich die U-Bahn. Ich war schon spät dran für meinen Termin und machte mir große Sorgen, weil 20 Kinder irgendwo weit entfernt auf mich warteten. Als ich an der U-Bahn-Haltestelle ankam, fragte ich den Angestellten, ob dieser Zug zu meiner gewünschten Station fahre. Er antwortete mir mit einem Lächeln: „Ja, natürlich.“ Ich atmete erleichtert auf. Aber dann fügte der Beamte hinzu: „Die nächste U-Bahn kommt erst in 30 Minuten.“
Das war bestimmt viel zu spät, oder?
Genau, und deshalb brach ich vor lauter Hilflosigkeit in Tränen aus. Ich weinte und sagte: „Kinder…. ich bin spät dran.“ Mehr konnte ich auf Deutsch nicht sagen. Er fragte: „Sind Sie Ukrainerin?“ Ich nickte: „Ja.“ Meine Tränen erschreckten ihn so sehr, dass er mich wie ein Kind an die Hand nahm und mich irgendwo hinführte mit den Worten: „Alles wird gut werden.“ Fünf Minuten später fuhr ein großer Zug vor. Dieser Mann steckte mich in den Waggon und übergab mich dem Zugpersonal mit den Worten: „Sie ist Ukrainerin, sie hat Kinder, sie muss zu diesem und jenem Bahnhof fahren.“ Und ich fuhr mit diesem Zug. In diesem hielt mich der Zugbegleiter fest an der Hand und wiederholte: „Alles wird gut werden.“
So bin ich zu meiner Haltestelle gekommen. Und dann war ich wieder davon überzeugt, dass es in Deutschland unglaublich nette und warmherzige Menschen gibt. Das Gute muss siegen, es wird siegen.“
[1] Raschismus = Faschismus +russia (engl)
[2] Jeweils mit einem kleinen Buchstaben „r“ geschrieben, weil dieses Land in den Augen von Iryna nicht mehr wert ist.
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