Weihnachten in Ellora, Indien
Die Reise nach Indien dauert jetzt schon drei Monate und so dürfen wir dabei sein, wie Volker Raddatz und Fritz Runge ihr Weihnachten in Indien verbringen. Viel Spaß beim Lesen!
Bharuch, 21. Dezember 2004
Wir verlassen Rajasthan, das wir zwei Wochen lang bereist haben, und fahren nach Süden. Die Kamel-Gespanne werden seltener, aber die „heiligen“ Kühe bleiben allgegenwärtig: sie fressen Plastik-Müll, kreuzen seelenruhig die Fernstraße oder sitzen ganz entspannt auf dem Mittelstreifen der breiten Verkehrswege, die übrigens durchweg einen sehr gepflegten Eindruck machen: angepflanzt werden kilometerlang Bougainvillea und Oleander.
Dankbar registrieren wir, dass die gute Autobahn eine lange Zeit durch schön anzusehendes, bebautes Acker- und Viehzuchtland führt, mit Raps-, Tabak-, Kohl- und Zuckerrohranbau, Bananenplantagen und Papayabäumchen. Am späten Nachmittag marschieren immer mehr Kolonnen von Feldarbeitern mit ihren Geräten nach Hause in den Feierabend, vorbei an Banyan-Bäumen mit ihren Luftwurzeln.
Wir merken, wie unendlich groß Indien ist.
Irgendwo sehen wir ein Schild „Mumbai 550 km“ und merken wieder einmal, wie unendlich groß Indien ist. Gleichzeitig wird uns bewusst, dass die Anzahl der Millionenstädte viel höher ist als ein flüchtiger Blick auf die Karte ahnen lässt. Während nämlich alle Reiseführer von Delhi, Mumbai (Bombay) und Chennai (Madras) reden, hat das relativ unbekannte Ahmedabad (das wir mühsam umfahren) ca. 2 Millionen Einwohner.
Irgendwo, 22. Dezember 2004
Heute hat Fritz Geburtstag. Abgesehen von dem sprichwörtlich schönen Wetter sind die Rahmenbedingungen allerdings nicht berauschend: wir fahren stundenlang auf der Nord-Süd- Straße durch riesige Müllberge, die sich bei näherem Hinsehen als teilweise bewohnt herausstellen – und zwar von ganzen Familien mit kleinen Kindern. Der deprimierende Gesamteindruck bessert sich auch nicht durch die zahlreichen Tempelbauten, die ausgesprochen gepflegt erscheinen, frisch gestrichen, sauber gefegt.
Ab und zu begegnet uns am Rande der stark befahrenen Autostraße ein einsamer Pilger mit seinem dreieckigen Fähnchen und den wenigen Habseligkeiten. Im Übrigen rollt der Verkehr laut und stinkend Richtung Mumbai (ab und zu sehen wir noch Kamelgespanne), bis wir schließlich erleichtert nach Osten abbiegen mit dem Fernziel Ellora, kurz vor Aurangabad gelegener Tempel- und Höhlenkomplex. Diese Straße bringt uns lange Partien grüner Felderwirtschaft mit Zuckerrohr, Baumwolle, Reis, Hirse, Bananen- und Papaya-Plantagen – eine wahre Augenweide nach der zersiedelten und vermüllten Industriegegend, die nur ein einziges Mal eine willkommene Abwechslung bot: den breiten Meeresarm südlich von Bharuch mit glitzerndem Ozeanwasser und erfrischendem Salzwassergeruch.
Die West-Ost-Straße erweist sich schnell als „unglaublicher Acker.
Mit ihren scharfen Kanten, Querrillen und zahlreichen Schlaglöchern lässt sie bei Fritz keine rechte Geburtstagsstimmung aufkommen. Die Landschaft dagegen bleibt lange Zeit reizvoll und wird oft durch kleine Gruppen von „Indianerzelten“ aufgelockert, wigwam-ähnliche Behausungen aus Schilf. Unser Standplatz ist ein mittelprächtiges Hotel, das uns zwei erträgliche Zimmer zu niedrigem Preis anbietet. Die „sanitären Anlagen“ nehmen wir in Kauf.
Ausgesprochen begeistert sind wir von der Qualität des Abendessens und der Freundlichkeit der Bedienung. Wir speisen sehr schmackhaft vegetarisch und verwöhnen Koch und Kellner mit reichlich Trinkgeld. So findet Fritzens Geburtstag noch einen angenehmen Ausklang.
Ellora, 23. Dezember 2004
Heute führt die Straße zum großen Teil durch landwirtschaftlich genutzte Natur, die einen weiten Blick über die Felder ermöglicht. Der erste Tag ohne ein einziges Kamelgespann. Stattdessen sehen wir Ochsenkarren (jeweils zwei Zugtiere, die bergab auch ganz flink laufen können) und sehr viele Wasserbüffel, z.T. bei der Arbeit, z.T. bei der Rast am Tümpel. Die Hörner einiger Büffel sind besonders ungewöhnlich geformt, z.B. nach unten geschwungen, so dass sie fast auf dem Boden schleifen.
Im Übrigen häufen sich die Baumwollfelder, und wir sehen viele Menschen bei der Pflückarbeit. Schließlich reiben wir uns ungläubig die Augen beim Anblick einer Baumwoll- Verladestelle bzw. eines zentralen Baumwoll-Umschlagplatzes, wo Dutzende von kleinen und großen Transportfahrzeugen (vor allem Ochsen-Doppelgespanne) mit ihrer Ernte auf die Abnahme durch den Großhändler warten – vielleicht tagelang? Die Summe dieser vielen Einzellieferungen türmt sich zu 1-2 Baumwollhalden, die dem Wetter (Wind, Regen) ungeschützt ausgesetzt sind.
Erstmalig in Indien bestaunen wir große Sonnenblumen-Felder.
Sie heben sich prächtig gegen den blauen Himmel ab. Ebenso farbenfroh, ja geradezu aus dem Reiseprospekt entnommen, wirkt der Anblick mehrerer Arbeiterinnen, die mit ihren blauen, grünen, gelben und roten Saris im leuchtenden Reisfeld hocken.
Die Kopfbedeckungen haben sich auch geändert: der Turban ist weitgehend ersetzt durch das weiße „Schiffchen“.
• Leider vergeht kaum noch ein Tag ohne den Anblick schauerlicher Lkw-Unfälle. Typisch indisch ist dabei die „Sicherung“ der Unfallstelle: sie erfolgt durch einen Halbkreis von eilig gesammelten Klamotten (z.T. spitze Steine), die anschließend nicht weggeräumt werden und den fließenden Verkehr erheblich gefährden.
Ellora, 24. Dezember 2004
Den größten Teil des Tages verbringen wir in den Höhlen von Ellora (Weltkulturerbe), welche über 5 Jahrhunderte hinweg (ab 6. Jh.) von buddhistischen, hinduistischen und jainistischen Mönchen bewohnt wurden, die aus einem 2 km langen Steilabhang Kapellen und Tempel herausschlugen und sie mit Skulpturen in Hülle und Fülle schmückten. Alles in allem gibt es 34 Höhlen: 12 buddhistische (6.-8. Jh.), 17 hinduistische (6.-9. Jh.) und 5 jainistische (8.-10. Jh.). Das Meisterwerk ist der Kailasa-Tempel mit der größten monolithischen Skulptur der Welt, aus dem Gestein gehauen von 7000 Arbeitern in 150 Jahren.
Die buddhistischen Höhlen zeigen meist Buddha in sitzender Stellung. Einige Höhlen sind zwei- und dreistöckig. Die Skulpturen sind einfach und, im Vergleich zu den hinduistischen und jainistischen, wenig differenziert. Die Wände sind mit Reliefs bedeckt.
Während Ruhe und Besinnung von den buddhistischen Höhlen ausgehen, sind die der hinduistischen Gruppe von Dramatik und Dynamik gekennzeichnet. Alle Tempel wurden von oben nach unten geschaffen, so dass kein Baugerüst nötig war, allerdings auch keinerlei Missgeschick passieren durfte.
Themen: Shiva beim Tanz, beim Schachspiel, beim Kampf mit dem Dämonen.
Vishnu taucht mehrfach auf, u.a. in seiner Inkarnation als Eber. Die Göttin Kali ist zahlreich vertreten. In einer anderen Höhle (zweistöckig mit Innenhof) wird Vishnu gezeigt, u.a. auf einer fünfköpfigen Schlange ruhend, einen Elefanten vor einem Krokodil rettend und als Narsimha (halb Mann, halb Löwe). Von der größten Höhle aus hat man einen schönen Blick auf einen nahe gelegenen Wasserfall, hinter dem sich terrassenförmig angeordnete Tümpel befinden, die schließlich in eine Mittelgebirgslandschaft übergehen. Hier, am Ende einer längeren Wanderung, begegnet uns ein saffrangelb gekleideter Einsiedler, der uns Tee und Bananen anbietet.
Die 5 Jain-Höhlen bilden einen großen Komplex. Sie zeichnen sich, besonders im Gegensatz zu den buddhistischen Höhlen, durch eine große Detailliebe aus.
Die schönste Höhle besteht aus mehreren Stockwerken.
Unten der einfache, weiträumige Versammlungsraum (mit Elefanten- und Zebu-Statuen), oben der Zeremoniensaal mit einer Abbildung des sitzenden Mahavira (Gründer der Jain-Religion), umgeben von reichhaltiger Fauna und Flora. Der Jainismus, der heute in Indien drei Millionen Anhänger hat, wurde im 6. Jh. von Mahavira, einem Zeitgenossen Buddhas, gegründet. Jains glauben daran, dass man durch vollständige Reinheit der Seele (Karma) die Befreiung erzielen kann (Fasten, Meditation, Rückzug in die Einsamkeit).
Jaintempel zeichnen sich durch bildhauerische Ausschmückung ganz im Gegensatz zur sonstigen asketischen Grundeinstellung aus. Der Grund dafür liegt vielleicht in der Überzeugung, dass Schönheit nicht nach außen (hier: Außenfassade) projiziert wird, sondern von innen heraus (hier: Innenausstattung) wirken muss.
Nach diesen anstrengenden Besichtigungen sind wir erholungsbedürftig und lassen den Tag mit Lektüre und Tee ausklingen. Zum Abendessen stellen wir uns Kerzen auf den Tisch, denn heute ist ja der 24. Dezember. Unsere Gedanken und Wünsche betreffen einerseits den guten Fortgang der Karawane, andererseits unsere Familien in der Berliner Heimat:
Fröhliche Weihnachten!
Wie alles begann kannst Du hier lesen!
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