Zwischen den Jahren in Indien
Was macht man wohl, wenn man zwischen den Jahren in Indien unterwegs ist? Unsere Abenteurer Volker und Fritz lassen Dich daran teilhaben. Auf ihrer Autoreise noch Indien, die wir hier als Tagebuch veröffentlichen, kannst Du lesen, wie man mit dem Auto bis nach Indien gelangt und was man dort alles erleben kann, insbesondere zwischen den Jahren.
Ellora, 25. Dezember 2004
Vormittags besichtigen wir das Fort von Daulatabad auf halbem Wege zwischen Ellora und Aurangabad. Das Fort ist von einer 5 km langen massiven Mauer umgeben, während die eigentliche Bastion auf der 200 m hohen Hügelspitze errichtet wurde (14. Jh.).
Eine Zeitlang bestand der Plan, hier eine neue Hauptstadt entstehen zu lassen und die Einwohner Delhis in einem unglaublichen Kraftakt über eine Entfernung von 1000 km umzusiedeln. Nach 17 Jahren sah der Herrscher seinen Fehler endlich ein und ließ die Menschen wieder zurück marschieren.
Besonders sehenswert (und z.T. kostbar) ist eine 6 m lange Kanone, die aus 5 verschiedenen Metallen gegossen wurde und eine Gravur mit Aurangzebs Namenszug trägt. Den letzten Abschnitt des Aufstiegs müssen wir durch einen dunklen, spiralförmigen Tunnel zurücklegen. Durch ihn (in dem jetzt Fledermäuse hausen) schütteten die Verteidiger des Forts eventuellen Angreifern glühende Kohlen entgegen. Wie so oft, wurde auch diese Festung niemals mit militärischen Mitteln eingenommen, wohl aber durch Bestechung des Wachpersonals.
Auf dem Rückweg sehen wir Feigenplantagen und machen dann einen längeren Stopp in einer Weberei. Dort beobachten wir die Arbeit am (halbautomatischen, mit Lochkartensystem gesteuerten) Webstuhl: ein junger Mann, jünger als 18 Jahre alt, verrichtet die monotone Arbeit (nach Angaben des Chefs beträgt seine Arbeitszeit 2 x 4 Stunden mit einstündiger Pause?!) für ein Webstück, das zu gleichen Teilen aus Baumwolle und Seide besteht. Ilse kauft eine schöne Sari.
- Zwischen den Jahren: Abends sitzt eine indische Familie im Restaurant am Nachbartisch. Plötzlich stehen die Kinder auf und wünschen uns „Happy Christmas“. Wir sind echt gerührt.
Poona, 26. Dezember 2004
Auf der Fahrt von Ellora nach Poona (Pune) passieren wir mehrere christliche Friedhöfe und eine katholische Kirche. Die Landschaft ist angenehm weitläufig, bietet viele Grüntöne und ist ausnahmslos Ackerbau und Viehzucht gewidmet. An einer Stelle sehen wir eine weitere Baumwoll-Verladestelle, diesmal mit einer Waage für Baumwoll-Transporter.
Unsere Unterkunft in Poona erweist sich als Zentrum der internationalen Ashram-Sekte, die in dieser Stadt ihr Hauptquartier hat. Überall rot gekleidete Gestalten, weniger aus Indien selbst als aus allen Teilen der Welt (auch Deutsche sichten wir seit langer Zeit), die sich der Sekten-Ideologie von der körperliche und geistige Gesundheit verschrieben haben.
Poona, 27. Dezember 2004
Heute fahren wir mit dem Zug (Dekkan Queen) nach Mumbai (Bombay). Fahrzeit: 3 Stunden im klimatisierten (besser: ventilierten) Großraumwagen. Auffallend ist der bienenfleißige Bord-Service, der von Anfang bis Ende Speisen, Getränke, ja sogar Bücher und Zeitschriften zum Kauf anbietet. Wir führen interessante Gespräche mit unseren Nachbarn.
Der Zielbahnhof (Victoria Station) gehört bereits zu den Sehenswürdigkeiten Mumbais, da er, ebenso wie das Rathaus und das Gerichtsgebäude, in englischem Stil erbaut wurde und seinem Londoner Zwilling sehr ähnelt. So laufen wir zur Hauptattraktion, dem Gateway of India, das direkt an der Meeresbucht liegt und von Menschen wimmelt.
Durch allerlei Gassen und Märkte gelangen wir an die sichelförmige Strandpromenade, die allerdings keinen Ausblick auf türkis-blaues Wasser bietet, sondern auf eine schmutzige Brühe, in der staatliche Angestellte etwas dilettantisch versuchen, von einem Ruderboot aus den zahlreichen Müll herauszufischen. Dennoch sehen wir einige badende Erwachsene und Kinder, die vom Mini- Sandstrand aus in den trüben Meeresfluten ihr Vergnügen finden.
Am Nordende des Marine Drive befinden sich die „Hängenden Gärten“ sowie ein schöner Aussichtspunkt über die Bucht und Teile der Stadt.
Da unsere Zeit langsam zu Ende geht, laufen wir noch ein Stück durch die quirligen Straßen mit den vielen Garküchen und Getränkebuden (deren unvermeidlicher Mief durch einen bezahlten Weihrauchschwenker wieder neutralisiert wird) und gelangen rechtzeitig zum Bahnhof, den der Zug pünktlich verlässt. Auf der Rückfahrt beobachte ich einen Sikh, der minutenlang seinen Oberkörper (wie ein Moslem) rhythmisch nach vorne neigt und dazu eine monotone Litanei singt. Gegen 20:30 sind wir wieder in Poona.
Panchgani, 28. Dezember 2004
Ilse und Birgid besuchen den berühmten Ashram, die Zentrale für Meditation zur Erlangung körperlicher und geistiger Gesundheit. Es handelt sich dabei um eine internationale Begegnungs- und Übungsstätte, deren materielle Ausstattung einem 5-Sterne-Hotel entspricht (Marmorsäle, idyllische Gartenanlagen mit klarem Wasser) – ein riesiges Refugium, abgeschottet von der lärmenden und schmutzig-stinkenden Realität indischer Großstädte. Die Anhänger dieser weltweiten Bewegung (Gründer: Osho, der im Laufe seines Wirkens einen wachsenden Personenkult trieb) kommen vorwiegend aus Deutschland, Italien, USA und Japan. Offensichtlich sind die meisten wohlhabend und suchen „die Kunst des Lebens“ wie Freude, Entspannung und soziale Offenheit, kurz: Lebensqualität als ideologisches Programm.
Gegen Mittag fahren wir weiter bis in den Gebirgsort Panchgani (1400 m), wo wir das allerletzte Zimmer im spätkolonialen Hotel Prospect beziehen.
Panchgani, 29. Dezember 2004
Wir machen einen Spaziergang hinauf zu den tablelands oberhalb von Panchgani. Dort befinden sich einige Tafelberge, die nach Auskunft unseres Gastgebers früher einmal unberührte Natur darstellten. Heutzutage reibt man sich die Augen vor Erstaunen: oben angekommen, befinden wir uns inmitten eines Vergnügungsparks, einer Mischung aus Rummelplatz und Aussichtspunkt. Familien mieten sich Pferdekutschen, die in wenigen Minuten die sandige und staubige Hochebene durchqueren; ein Riesenrad symbolisiert Volksfeststimmung, und überall stehen Imbiss- und Getränkebuden. Trotzdem gelingt es uns irgendwie, in relativer Ungestörtheit eine große Runde zu drehen und das herrliche Panorama (Blick auf Felsen, See, Eukalyptuswälder) zu genießen.
Kharepatan, 30. Dezember 2004
Die Fahrt geht – erst in Ost-West-, dann in Nord-Süd-Richtung – durch die West Ghats, d.h. durch schöne Naturlandschaft mit einem (für Indien typischen) hohen Anteil an kultiviertem Boden (Ackerbau und Viehzucht). Insgesamt eine wohltuende Korrektur unseres „anderen“ Indienbildes, das aus städtischen Elendsquartieren, Müllbergen und bettelnden Kindern besteht. Leider lässt die Qualität der Straße teilweise sehr zu wünschen übrig, so dass unsere Aufmerksamkeit streckenweise den zahlreichen Schlaglöchern, Querrinnen und „Brechern“ gilt.
Immerhin bemerken wir das üppige Grün, welches die gesamte Fahrt nach Süden dominiert: Reisfelder, Zuckerrohr, Kokospalmen – alles ergänzt sich zu einem schönen, für die Augen erholsamen Gesamteindruck.
Gegen Abend hören wir den Ruf des Muezzin, in Indien eher eine Seltenheit, und sehen daraufhin eine Moschee.
Die Temperaturen steigen im Wagen auf 33° C. Wir sind hinuntergeklettert von 1400 m und spüren jetzt die schwüle Hitze des Tieflandes. Mehrmals haben wir breite, wassertragende Flüsse überquert und befinden uns stundenlang inmitten üppig-tropischer Vegetation. Zwischen den Jahren zuhause sieht anders aus,
Angesichts des chaotischen Verkehrs und der nicht minder chaotischen Straßenzustände lösen amtliche Richtlinien und Appelle immer wieder unfreiwillige Heiterkeit aus:
- „This is a High-Way, not a Die-Way!“
- „Safety on the Road is Safe Tea at Home!“
Goa, 31. Dezember 2004
Wir fahren weiter Richtung Süden und gelangen bald an die nördlichen Strände von Goa, dessen Grenze zu Maharashtra uns einige Formalitäten abverlangt. Die Landschaft ist ausgesprochen tropisch: sattes Grün, Kokospalmen, Zuckerrohr und herrliche Reisfelder. Gegen 11:00 sind wir im Touristenrummel des Vagator-Strandes und schauen zum ersten Mal von den Klippen hinunter auf den Ozean, der mit trägen Wellen heranrollt.
Ich bemühe mich 4 Stunden lang, z.T. mit Hilfe eines Taxifahrers, in der völlig überfüllten und ausgebuchten Touristenszene noch eine angenehme Unterkunft zu finden. Nach einigen Enttäuschungen (entweder „Feiertagspreise“ oder versiffte Räume) finde ich eine schöne Bleibe weitab vom Krach der Diskotheken, Internet-Cafés und Restaurants – an einem langgezogenen Strand nördlich von Vagator (Morjim Beach), wo eine Familie eine kleine Hotelanlage fertig gestellt hat. Damit ist unser Jahreswechsel gerettet, und wir haben nun Zeit und Gelassenheit, ein paar Stunden am Strand spazieren zu gehen. Schließlich fällt die Sonne wie ein Feuerball ins Arabische Meer.
Das Abendessen (sehr schmackhafte Fischgerichte) nehmen wir auf dem Dach des noch unfertigen Hotel-Ausbaus ein. Die Stimmung ist etwas surreal – eher wie im Film: Es herrscht die Atmosphäre einer Baustelle mit dem Charme einer Neonlicht-Idylle. Um Mitternacht wird uns so richtig bewusst, dass wir das Neue Jahr fernab der Heimat in Goa/Indien begrüßen.
Unsere christlichen Gastgeber gehen zum Jahreswechsel in eine katholische Messe.
Wenn Du die Geschichte ganz von Anfang an lesen möchtest, hier geht es zum 1. Teil!
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