Danke, Wutbürger!
„Ich habe Lust darauf, daran mitzuwirken, dass man die Politik in unserer Demokratie wieder in allen Teilen der Bevölkerung versteht.“ Sehe ich ähnlich. Auch deshalb lese ich gern, was Erik Flügge in seinem bemerkenswerten Buch über Deutschland geschrieben hat. Ein Gesellschaftsporträt, in dem er „den politischen Burnout der deutschen Demokratie“ darlegt. Und er ist – wie ich – entsetzt, welche Spannungen heute herrschen. Auch, aber nicht nur unter Wutbürgern.
Ich gebe zu: erst vor kurzem habe ich mir mal die Seite der Dresdner Pegida angeschaut. Und ich gestehe auch: Lange habe ich es da nicht ausgehalten. Zu viel Pathos, zu viel Geschimpfe. Aber Erik Flügge schreibt etwas Wahres: Wer lauthals schimpfe und demonstriere, der wolle schließlich noch was von unserer Gesellschaft. Und deshalb hält er die Irritation, die wir in den letzten Jahren erfahren haben, für produktiv nutzbar: Zum Beispiel dafür unsere Volksparteien wieder aufzumöbeln.
Wo die AfD nur 12 Stimmen hat, nicht 12 Prozent
Flügge zählt sich selbst zu den jüngsten politischen Strategen in diesem Land; er ist Geschäftsführer einer Kölner Politikberatung. Sich selbst zu verkaufen, gehört da zum Geschäft. Warum auch nicht. Und so beschreibt er mit netter Selbstironie, wie er mit seinen kölschen Kneipenkumpels über Gott, die Welt und die Politik debattiert und in welcher Scheinwelt er mitten in der Kölner Innenstadt lebt. Da, wo die AfD „nicht 12 Prozent, sondern insgesamt nur 12 Stimmen“ bekommen habe.
Flügges Buch „Deutschland, du bist mir fremd geworden“ trägt den Untertitel: „Das Land verändert sich – und wir uns mit?“ Bewusst in Frage-Form. Denn diese Frage beschäftigt ihn sehr. Und wieder: Auch mich! Und natürlich wissen wir, dass wir nicht allein sind. Die Frage darüber hinaus ist aber: Was tun wir? Weiter machen wir bisher? Abwarten? Auf was?
Ein Weckruf, den wir alle brauchen
Flügge will nicht länger warten. Jedenfalls schreibt er das. Er versteht den Angriff von rechts als „Weckruf, den wir alle brauchen“. Und formuliert noch drastischer:
„… wenn dieser rechte Mob nicht siegen soll, dann ist es an uns, aufzustehen.“
Mit „uns“ meint Flügge „die bürgerlich-spießig-braven Linken“, inklusive sich selbst. Und er geht sowohl mit der SPD als auch der gesamten sogenannten Mitte hart ins Gericht. Letzterer sei doch die eigene Lunge unwichtiger als der Wertverlust des eigenen Dieselautos.
Mein Schulfreund Dirk Hilbert, der seit vielen Jahren in Patagonien lebt, hat mir kürzlich Folgendes geschrieben: „Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass gerade unsere Generation maßgeblich daran schuld ist. Gerade wir, die wir „ohne“ wirkliche Probleme groß geworden sind, eine hervorragende Ausbildung genossen haben – und später ist das Wichtigste, wie wir von anderen wahrgenommen werden? Irgendwas ist irgendwo, irgendwann völlig falsch gelaufen.“
Was also tun, um aus unserer Komfortzone rauszukommen?
Wenn ich Erik Flügge richtig verstehe, fordert er uns alle heraus endlich mutig zu sein. Und er wäre kein Politikberater, würde er nicht auch Politikern Ratschläge erteilen. Der Kommunalpolitik zum Beispiel empfiehlt er, sich selbst die Medien zu schaffen, die sie braucht, um ihre Botschaften (wieder) zu transportieren. (Wer das Buch liest, weiß dann auch wie.) Und an die CDU und SPD auf Landes- und Bundesebene gerichtet schreibt Flügge:
„Die Herde braucht keine handzahme Politik. Eine Herde braucht Schäferhunde, die ihr Orientierung bieten und sie im Winter sicher in den Stall bringen. Sie braucht eine Politik, die im Gegensatz zur Herde den Weg ins Warme und zum Tierarzt kennt.“
Ich finde es ohfamoos, wie Erik Flügge mit einfachen Worten sich selbst, mich und vielleicht auch Dich antreibt. Denn in der Tat verändert sich Deutschland rapide und höchstwahrscheinlich sind wir irgendwann den Wutbürgern sogar dankbar, dass sie uns aufgerüttelt haben. Am besten ohne Empörung und am besten FÜR ein Deutschland, das besser werden will, ja muss. Wir werden über neue Initiativen berichten …
Übrigens: Wir hatten hier auf ohfamoos kürzlich ein sehr spannendes Pro & Contra. Auch da ging es um Politik und Medien – und beide Autoren stellten abschließend fest: „We agree to disagree.“
Hier die Artikel zum Nachlesen:
Antje Voss Solingen 1993 – Chemnitz 2018: Was Medien daraus machen
und
Albrecht Gundermann Noch ´ne Alternative für Deutschland: Die Medien
Illustration: Ela Mergels, Köln