Bürgerräte – ein Weg aus dem Politikfrust?
Durch einen Bürgerrat auf Bundesebene sollen in einem Experiment noch in diesem Jahr die Bürger*innen mehr am politischen Geschehen beteiligt werden. In Frankreich zeigt sich gerade, dass durch dieses Instrument mit der Klima- und Umweltkrise sogar die wohl größte globale Herausforderung adressiert werden kann – und dass Bürger*innen, die Verantwortung übernehmen, zu erstaunlich weitreichenden Vorschlägen raten. Wie ein Bürgerrat funktioniert und warum er wie ein Update für unsere Demokratie wirken kann, erklärt Gastautor Heiko Erhardt an spannenden Beispielen.
Ein Weg aus dem Politikfrust
Bis vor anderthalb Jahren hatte ich die Nase gestrichen voll von Politik. Ich war fertig mit dem gescheiterten Versuch namens parlamentarischer Demokratie. Eine nette Idee, das Volk über gewählte Vertreter entscheiden zu lassen. Funktioniert nur leider nicht.
Eine zügellose Wirtschaft, die schon lange nicht mehr dem Gemeinwohl dient, bestimmt wo es lang geht. Während der Klimawandel auch bei uns ankommt, unsere Wälder sterben und inzwischen mehr als die Hälfte aller Säugetierarten verschwunden sind, haben unsere Parlamentarier nichts Besseres zu tun als sich in endlosen Debatten gegenseitig zu beschuldigen. Unsere „politische Kaste“ gibt sich ihren Eigeninteressen und Machtspielen hin. Auch als grundlegend positiv gestimmter Mensch machten sich bei mir Frust, Ohnmacht, Traurigkeit und Wut breit. Vielleicht kannst du das ja aus eigener Erfahrung nachvollziehen.
Mitte 2019 bin ich auf die Klimabewegung Extinction Rebellion gestoßen – und ihre dritte Forderung „Politik neu leben“. Dahinter steckt die Idee eines „Bürgerrats“ – ein spannendes und innovatives Konzept, das der Bewegungsunfähigkeit unserer Politik klar formulierte Empfehlungen gut informierter, repräsentativer Bürger*innen entgegensetzt.
Dass die Politik sich durchaus schnell und wirksam bewegen kann, wenn der Handlungsdruck groß genug ist, wissen wir spätestens seit Corona.
Was soll ich sagen? Das Thema hat es mir angetan, mich motiviert und Möglichkeiten aufgezeigt, unsere Demokratie fit zu machen für die großen Herausforderungen. Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Bürger*innenversammlung (ein Synonym zum Begriff Bürgerrat) von Extinction Rebellion spreche ich heute mit Bürgern und Politikern, unterstütze Bürgerrats-Initiativen auf kommunaler und auf Bundesebene und habe ein Netzwerk von Organisationen mit ins Leben gerufen, die sich dem Konzept verschrieben haben.
Die französische Überraschung
Unser Nachbar Frankreich macht uns gerade vor, wie ambitionierter Klimaschutz funktionieren kann: Nach 7 Tagungswochenenden hat der 150 Teilnehmer*innen starke nationale Klima-Bürgerrat „Convention Citoyenne pour le Climat“ sein Ergebnis veröffentlicht. Die 149 Empfehlungen haben selbst Insider verblüfft und gehen deutlich über das hinaus, was sowohl die Deutsche als auch die Französische Politik in den letzten Jahrzehnten zu diesem Thema vorgelegt haben. Weitreichenden Signalcharakter hat zum Beispiel die vorgeschlagene Änderung des ersten Artikels der französischen Verfassung, die den Staat als Garant für den Erhalt der biologischen Vielfalt und der Umwelt sowie für den Kampf gegen den Klimawandel in die Pflicht nehmen soll. Bemerkenswert sind ebenso der Vorstoß zur Einstufung von Ökozid (die Zerstörung der Umwelt durch Umweltverschmutzung im hohen Maß) als Verbrechen, ein Verbot von Inlandsflügen, eine Neuverhandlung des Handelsabkommens CETA und vieles mehr. Der französische Präsident Macron scheint es ernst zu meinen: Erste Vorschläge werden von Ministerien bereits umgesetzt.
Mit Bürgerräten wird etwa seit 2010 international experimentiert. Die Idee ist so einfach wie genial: Zu umstrittenen Themen von gesellschaftlicher Relevanz sollen informierte Bürger*innen Handlungsempfehlungen erarbeiten, die von der Politik umgesetzt werden können. Dazu wird die Gesellschaft durch ein repräsentatives Losverfahren im Kleinen abgebildet. Die Teilnehmer*innen erhalten umfassende Informationen, die die Problematik aus verschiedenen Perspektiven darstellen. In mehreren Treffen meist im Monatsturnus beratschlagen die Bürger*innen über Maßnahmen zum Thema. Ein moderiertes Verfahren stellt sicher, dass jeder gleichermaßen seine Meinung äußern kann und niemand die Diskussion dominiert. Sämtliche Informationen werden veröffentlicht und die Ergebnisse der Beratung transparent dargestellt, so dass die Bevölkerung die Überlegungen des Bürgerrats nachvollziehen kann.
Die ausgebremste Republik
Soweit so gut. Aber warum braucht es dazu überhaupt Bürger*innen? Sollten nicht unsere gewählten politischen Repräsentanten das auch tun können? Theoretisch ja. Praktisch leider nicht.
Diskussionen im Bundestag und in den Fachausschüssen sind häufig geprägt von parteipolitischer Taktik. Fraktionsdisziplin sticht individuelle Überzeugung. Das Ende der aktuellen Legislaturperiode ist kein geeigneter Horizont für Entscheidungen mit Tragweite. Circa 5.000 Lobbyist*innen in Berlin tun ein Übriges, um die Interessen großer Unternehmen oder Verbände durchzusetzen. Im Bundestag sitzen überdurchschnittlich viele männliche Juristen und Verwaltungsfachleute jenseits der 50. Kein Wunder, dass nicht wenige Menschen sich von der politischen Kaste nicht mehr hinreichend vertreten (wenn nicht gar bevormundet) fühlen und im Extremfall zu Wutbürger*innen mutieren.
Bürgerräte haben sich als Instrument der partizipativen Politik insbesondere bewährt bei politisch festgefahrenen und gesellschaftlich polarisierenden Themen. Stark beeindruckt haben mich die Irischen Bürgerräte, die von 2012 bis 2016 zu verschiedenen Themen tagten. In dem nicht gerade als progressiv bekannten Land haben Bürgerrate in Verbindung mit einer nachgelagerten Volksabstimmung zu einer vollständigen Liberalisierung der extrem strikten Abtreibungsgesetzgebung und zu einer Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen geführt. Sehr berührend finde ich den Bericht eines ehemaligen irischen Wutbürgers und Schwulenhassers, der im Laufe des Prozesses seine Meinung nicht nur zum eigentlichen Thema fundamental geändert hat (hier als Podcast und hier in Kurzform). Und genau das ist eine der Stärken eines Bürgerrats: In den Kleingruppen, die im Laufe des Prozesses gebildet werden, sitzt die Sachbearbeiterin an einem Tisch mit dem Manager, dem Briefträger, der Rentnerin, dem Geflüchteten, der Aktivistin, der Schülerin und dem Harz 4-Empfänger. All diese Menschen bekommen Dinge zu hören, die sie vielleicht vorher noch nicht wussten und diskutieren diese Themen mit Personen aus anderen Lebenswelten und Kontexten.
Es kann stattfinden, was sonst nur selten passiert: Eine Verständigung über Meinungsblasen und Echokammern hinweg.
Wichtig: Der Bürgerrat trifft keine politischen Entscheidungen, sondern spricht deutliche Empfehlungen aus. Die Gesetzgebung bleibt nach wie vor beim Parlament und die Ausführung bei der Regierung. Wohl aber gibt der Bürgerrat der Politik einen unbeeinflussten, auf der Grundlage ausgewogener Information erarbeiteten und klar formulierten Bürgerwillen an die Hand. Diesen einfach zu ignorieren, kann für eine*n gewählte*n Volksvertreter*in sehr schnell nach hinten losgehen. Vielmehr können vorwärts gerichtete Politiker*innen dieses Meinungsbild der Gesellschaft als Schild gegen den Einfluss der Lobbys nutzen und sich selbst aus der Schusslinie bringen, um wieder freier agieren zu können.
Das Deutsche Experiment
Im Juni 2020 hat der Deutsche Bundestag per Presseerklärung den ersten Deutschen Bürgerrat auf Bundesebene angekündigt. Das etwas schwammige Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ sei “von der Alltagsrealität vieler Menschen zum Teil weit entfernt“ wundert sich Peter Lindner von der Süddeutschen Zeitung, bezeichnet den Schritt aber dennoch als „großen demokratiepolitischen Fortschritt“.
Viele Organisationen der Umwelt- oder der Demokratie-Bewegung wie z. B. Mehr Demokratie e. V., Klima Mitbestimmung Jetzt und Extinction Rebellion halten einen Bürgerrat zum Thema Klimagerechtigkeit und zu Maßnahmen gegen den ökologischen Kollaps für dringend notwendig. Selbst Bundeswirtschaftsminister Altmaier räumt inzwischen Versäumnisse in der Klimapolitik ein und spricht von „enormem“ Nachholbedarf.
Sonja Ohly von ohfamoos weist in ihrem Blog „Jede Krise ist auch eine Chance!“ darauf hin, dass es gerade ziemlich mau aussieht um das Thema Bürgerbeteiligung in Deutschland.
Bürgerräte geben dem Thema gerade mächtig neuen Drive.
Die gibt es übrigens auch in lokalen Varianten, z. B. unter dem Begriff „Planungszelle“ für städtebauliche Vorhaben. Vielleicht gibt es in Deiner Umgebung ja auch ein Projekt der Gemeinde, das etwas Bürgermitbestimmung gut vertragen könnte.
Unser bald 70 Jahre altes System der parlamentarischen Demokratie hat sich durchaus bewährt, wird aber zum Teil lahmgelegt von politischer Trägheit, Partikularinteressen und Parteistrategie. Es ist Zeit für ein Update unserer Demokratie. Schließlich laufen unsere Computer ja auch nicht mehr mit Windows 95.
In Verbindung mit anderen Instrumenten partizipativer Politik haben Bürgerräte das Zeug, eine dringend notwendige Renaissance unseres politischen Systems einzuläuten – bis hin zur Vision von einer Konsultative, einer neben Legislative, Judikative und Exekutive vierten Macht im Staat, mit der wieder eine Verbindung geschaffen werden kann zwischen Bürger*innen und Politik. Das macht mir wieder Hoffnung.
ohfamoos-Gastautor Heiko Erhardt lebt mit Familie im Potsdamer Stadteil Babelsberg. Er inspiriert und begleitet als Berater und Coach Organisationen auf dem Weg zu entspannteren Kulturen und Organisationsformen jenseits der klassischen Hierarchien. Als Aktivist für Politik und Umwelt tritt er für eine Modernisierung unserer Demokratie durch partizipative Elemente ein.
Fotos: via Extinction Rebellion und Heiko Erhardt
Dazu unbedingt lesen :
Neustaat von Th. Heilmann/N. Schön. 64 Abgeordnete und Experten fangen bei sich selbst an – mit 103 Vorschlägen.
Interessant!
Ein passendes Thema wäre z.B. das Thema: „Nutzung der Kernenergie unter veränderten Rahmenbedingungen“
Komplexe Themn wie eine wirtschaftliche Neuausrichtung oder der Umgang mit Nukleartechnologie haben kontroverse Seiten. Wir werden mit diesen Angelegenheiten nur voran kommen, wenn wir uns mit dem Fokus auf Gemeinwohl und Zukunftsfähigkeit über ideologische Grenzen und Partikularinteressen hinweg auseinandersetzen. Ich meine, das Bürgerräte dafür eine hervorragende Plattform bieten.
Interessant, was Andrea Römmele in diesem Newsletter der Hertie Stiftung zum Thema Bürgerräte sagt: https://ta2821868.emailsys1b.net/mailing/173/3280065/10400019/423/5e5623718d/index.html
Mittlerweile gibt es eine Gegenposition zu meinem Artikel:
Unter
https://www.ohfamoos.com/2020/10/sind-buergerraete-weltfremd-oder-notwendig/
hat Stephan Eisel seine Meinung zu dem Thema kund getan.
Da ich das natürlich nicht ganz unkommentiert stehen lassen konnte, kam prompt eine rege Online Diskussion in Gange.
Herr Eisel und ich hätten uns wohl noch seitenweise Pro- und Contra-Argumente um die Ohren hauen können und die Versuchung dazu war für mich durchaus da. Nach einer Weile Hin- und Her-Überlegen habe ich Herrn Eisel eine direkte Mail geschrieben und ihm vorgeschlagen, ob wir uns nicht mal in einer Videokonferenz zum Thema unterhalten wollen. Ich habe mich sehr gefreut, dass er spontan Ja gesagt hat.
Das Ergebnis waren für uns beide durchaus spannende und vergnügliche, aber auch herausfordernde 1 1/2 Stunden, in denen wir unsere Argumente dargelegt und diskutiert haben.
Und in denen wohl beiderseitig Verständnis und Akzeptanz für die Perspektiven und Erfahrungen des Gesprächspartners entstanden ist.
Wir haben daraus sogar so etwas wie ein Abschluß-Statement (zwischen „***“) gezaubert:
***
In Deutschland existieren auf kommunaler wie auf Länder- und Bundes-Ebene mannigfaltige Instrumente der Bürgerbeteiligung. Viele unserer gewählten Volksvertreter suchen den direkten Dialog mit den Bürger:innen und nehmen deren Anliegen sehr ernst.
Bürger:innenräte können eine durchaus sinnvolle Ergänzung zu diesen Möglichkeiten darstellen, wenn es darum geht, ein Stimmungsbarometer gut informierter Bürger über Lebenswelten und Millieus hinweg zu erstellen, das als Kompass für die Politik fungieren kann.
Auf einige Themen sollte bei Bürger:inennräten geachtet werden:
Es sollte sicher gestellt sein, dass nicht nur die Ergebnisse, sondern der Prozess selbst wie auch der Hintergrund der Teilnehmer (z. B. Verbandszugehörigkeiten) so transparent wie möglich dargestellt werden, um Ungleichgewichte erkennen zu können.
Wie auch bei anderen Verfahren der Bürgerbeteiligung leiden auch Bürger:innenräte unter dem Effekt, dass sich besonders politikinteressierte Bürger:innen und Menschen mit genügend Zeit als Teilnehmer melden. Diese Schwäche kann ein Losverfahren nicht beheben.
Aktuell werden Bürger:innenräte meist durch professionelle Moderatoren und Organisatoren durchgeführt. Die dabei involvierten kommerziellen Interessen sollten durch Offenlegung des Auftragsvolumens transparent sein.
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In diesem Gespräch ist etwas geschehen, das in unserer Gesellschaft bis jetzt noch relativ selten geschieht:
Ein alter CDU-Haudegen und ein Extinction Rebellion-Aktivist haben das, was sie trennt, beiseite geschoben, sich zusammengesetzt, Gemeinsamkeiten entdeckt über ihre ideologischen Lager hinweg Erkenntnisse gewonnen und Empfehlungen erarbeitet.
Genau davon brauchen wir mehr für die Herausforderungen, die vor uns liegen.
Wir möchten Sie zu einem Experiment anregen:
Wenn Sie das nächste Mal auf jemanden treffen, von dem Sie glauben, dass sie oder er eine deutlich andere Meinung hat (Ja, das darf auch ein Politiker in ihrem Umfeld sein):
Schlagen Sie der Person einen Austausch vor und versuchen Sie, sich auf seine Perspektive einzulassen. Es könnte sehr spannend werden.