Einsamkeit – globaler Megatrend?
Einsamkeit gilt vielen als Eingeständnis des Versagens, besonders unter jungen Leuten. Deshalb tun sie einiges dafür, auf ihren Social Media-Accounts wahre Scheinwelten zu zementieren: lächelnd, optimal ernährt und trainiert, von Freunden umgeben. Bilder, die oft mit der Wahrheit sehr wenig zu tun haben. Elke hat bei zwei jungen Frauen aus zwei Großstädten in Ost- und Westdeutschland nachgehört, wie sie mit Einsamkeit umgehen.
Immer mehr Menschen haben in den letzten Jahren von sich ein digitales Bild in den sozialen Medien geschaffen. Mit großem Zeitaufwand, mit viel Akribie. Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete das, allerdings vor Corona, als „Ergänzungsraum für das reale Leben“ und wörtlich hieß es dort: „Wieso denn auch nicht? Freude, Glück und Euphorie verdoppeln sich schließlich, wenn man sie teilt.“
Was aber wenn dieses Bild dem wahren Leben nicht oder nicht mehr entspricht? Was passiert dann?
Viele beginnen, an der Diskrepanz zu diesen Fake Lifes zu leiden. Oft stumm, manchmal werden sie jedoch auch laut, wie Claire Bushey, Chicago-Korrespondentin der „Financial Times“. Die in den USA bekannte Journalistin hielt es eines Tages offenbar nicht mehr aus und gab in einem Artikel zu, einsam zu sein. Wie bitte? Von „so einer“ hätte man das nun wirklich nicht gedacht. Selbst ihre Redaktionskolleg*innen fragten staunend, ob sie ihre Geschichte wirklich veröffentlichen wolle. Sie, die doch immer als hartnäckige Journalistin galt.
Einsamkeit – auch ein Thema in den Financial Times
Bushey wollte – und so schrieb sie einmal nicht über strittige Wirtschaftsthemen, sondern über die harte Last der Einsamkeit. Und löste damit eine Welle von Solidarität mit ihr aus, die sie selbst überraschte. In deutschen Medien wird sie mit diesem Satz zitiert: „Ehrlich gesagt bekam ich mehr Mails als für jede Enthüllungsstory über Boeing”. Hunderte „einfühlsamer, intelligent geschriebener“ Zuschriften aus aller Welt habe die „Financial Times“ seitdem veröffentlicht, heißt es weiter.
Wir von ohfamoos wollten wissen, wie das hier bei uns ist. Ist Einsamkeit auch in Deutschland ein Trend, vielleicht sogar ein Megatrend? Deshalb habe ich zwei junge Frauen befragt, beide Mitte/Ende 20. Sie dürfen gern anonym bleiben, denn das Thema ist herausfordernd. Wer einsam ist, ist selbst dran schuld – diese These scheint im Moment sehr gängig. Und wenn Einsamkeit als persönliches Versagen eingestuft wird, ist man vorsichtig, darüber öffentlich zu reden. Nur zu verständlich.
„Wer lange Einsamkeit wählt, macht was falsch.“ (Marie)
ohfamoos gegenüber zeigen sich beide Frauen offen. Sie geben zu, manchmal tatsächlich einsam zu sein. Das sei, so Marie* aus Leipzig, „ab und zu und in Dosen auch nicht schlecht“. Doch seien die allerwenigsten Menschen für ein Einsiedler-Leben geeignet, betont die Studentin und lacht: „Selbst der Einsiedler würde in selbstgewählter Einsamkeit vielleicht meditativ in den See oder Sternenhimmel starren, um eine Connection zu finden, die man immer mal braucht. Wer lange Einsamkeit wählt, macht was falsch. Man muss (s)eine Passion finden.“ Wer das schaffe, gehöre zu dem glücklicheren Menschen, „die dann auch andere weniger beschimpfen“, sagt Marie.
Nadine* aus Düsseldorf thematisiert vor allem das: Probleme würden selten von selbst angesprochen. Sensible Themen seien ein Tabu in unserer heutigen Gesellschaft. „Das Schweigen über bestimmte Dinge führt definitiv zu einem Gefühl, alleine damit zu sein, obwohl viele Menschen vielleicht das Gleiche gerade beschäftigt.“ Sie, die bald mit ihrem Studium fertig ist, glaubt, dass dies ein Faktor sei, „der zu mehr Egoismus in unserer heutigen Gesellschaft führt“. Jede/r wolle sich heutzutage selbst verwirklichen und das Beste aus sich herausholen. Sich selbst bewusst nicht ausschließend, betont Nadine: „Dieser Drang nach Selbstoptimierung führt eben auch dazu, sein Umfeld zu vergessen und zu sehr auf sich selbst konzentriert zu sein.“
Was entsteht aus dieser Selbstoptimierung?
Die gebürtige Hessin sieht „eine perfekte, aber unrealistische Welt“, die vor allem durch Konsum und das Befüttern sozialer Plattformen wie Instagram entstehe. „Trotzdem konsumieren vor allem junge Leute täglich diese „Scheinrealität“ und bekommen das Gefühl, ein „perfektes Bild“ nach außen abliefern zu müssen.“ Sie, die ebenfalls im sozialen Netz surft, erkennt das auch an sich selbst. Deshalb versucht Nadine, sich mittlerweile bewusst davon zu distanzieren und sich nicht so stark beeinflussen zu lassen. Ein Schutzmechanismus?
Auch Marie ist längst nicht mehr so oft im Netz wie früher. Mit Absicht. Die gebürtige Baden-Württembergerin hat das Alleinsein gelernt, und das nicht erst in Corona- Zeiten. Gern prägt sie sich ein, wie stark jeder es selbst in der Hand habe, sein Glück zu finden. „Auch mit 80 kann man noch neue Freundschaften finden“, sagt sie. Schwört sie sich selbst darauf ein, nicht vom Alleinsein in die Einsamkeit zu rutschen? Jedenfalls zitiert sie gleich darauf Erich Kästner, dessen Überzeugung unlängst in einem Film so dargestellt wurde:
„Solang noch einer an dich glaubt, hast du kein Recht ganz zu verzweifeln, das ist ganz einfach nicht erlaubt.“ (Erich Kästner)
Diesem Lebensauftrag kann Marie viel abgewinnen. Plus: Für sie kann Einsamkeit auch produktiv sein – wenn man in existentiellen Momenten realisiert, allein verantwortlich zu sein. „Zu gewissen Zeitpunkten, wenn man zum Beispiel in einer Notsituation steckt und keiner helfen kann, muss man allein klarkommen. Durch solche Erlebnisse, also Einsamkeitsmomente, kommt man in die Verantwortung für sein eigenes Handeln.“
Um jedoch grundsätzlich nicht allein zu bleiben, müsse jeder etwas tun, etwa Hobbies zu entwickeln „und so lange unter Leute zu gehen, bis man Freunde gefunden hat. Im Flow bleiben!“
Im Flow des Lebens bleiben
Dabei wissen Marie und Nadine nur zu gut, dass dieses „im Flow bleiben“ oft alles andere als trivial ist. Nicht umsonst gibt es Zeitschriften, die genau so heißen – und jede Frauenzeitschrift, jeder Livestyle-Blog beschäftigt sich heute damit, welche Rezepte es gibt, lebendig zu bleiben, im Glück zu surfen und was man tun sollte, diesen Flow des Lebens bloß nicht zu verpassen…
„Wir stehen vor schier unendlich vielen Möglichkeiten“ (Nadine)
Für Nadine fängt das Unheil schon damit an, dass Jugendliche nach dem Schulabschluss „vor schier unendlich vielen Möglichkeiten stehen, ihre Zukunft zu gestalten“. Und dem großen Trend, die weite Welt zu bereisen, hat Corona nun erstmal einen fetten Riegel vorgeschoben. Sich beispielsweise in Australien für ein Studium vorzubereiten und um den Globus zu tingeln, das war einmal. Kommt wieder, ja, aber momentan scheint eher richtig: Gut, wer bereits sorglos weg war! Und gut, wer bereits Praktika vorweisen kann, denn in Corona-Zeiten eins zu ergattern, geht fast nur mit Vitamin B, also Beziehungen. Und von einem festen Job kann kaum die Rede sein.
Nadine und Marie wissen, dass sie sich „in einer Bubble befinden“ und es ihnen grundsätzlich gut geht. Trotzdem haben beide Frauen durch zahlreiche Umzüge und Stationen in den letzten Jahren gemerkt, „wie schwierig es ist, sich ein soziales Umfeld aufzubauen und immer wieder von vorne anzufangen. Es braucht Zeit und es kostet Energie, sich einzuleben, neue Leute kennenzulernen und auch Vertrauen aufzubauen“, beschreibt Nadine ihre Lebenssituation.
Oft wisse man noch nicht einmal, wie lange man an einem Ort bleibe. „Im Gegenteil“, sagt Nadine, „bei vielen Stationen ist von Anfang an klar, dass die Zeit nur befristet ist und man schon bald wieder woanders sein „Zelt aufschlägt“. Dadurch lasse man sich auf neue Leute nicht mehr so intensiv ein, es bleibe bei oberflächlichen Bekanntschaften. „Es ist einfach etwas anderes, ob man mal eben für ein Käffchen vorbeikommen und im Gesicht der Freundin sehen kann, wie es ihr wirklich geht, oder ob man einmal im Monat telefoniert, weil man mittlerweile 300 km entfernt voneinander lebt.“ Dies macht es schwieriger, Probleme zu erkennen und anzusprechen.
Öffentliche Räume – a-sozial?
Marie hat noch einen anderen Aspekt entdeckt. Dadurch, dass wegen Corona „die sozialen Schauplätze“ weggebrochen seien, steigere sich die Einsamkeit bei vielen rapide. Hobbies wie tanzen gehen oder eine Bar besuchen – all das ist mittlerweile undenkbar. Sie weiß:
„Kultur, Konzerte, Kneipen – alles weg. Und der 1000. Spaziergang ist irgendwann langweilig und man ist genug von Netflix inspiriert.“ (Marie)
Marie zählt sich übrigens nicht zu den vermeintlichen „Party-People“, hat aber 100% Verständnis dafür, dass dies total fehle.
Zudem sei der öffentliche Raum „sehr a-sozial gestaltet“. Und überall sonst werde man „gezwungen Geld auszugeben, wenn man Leute treffen will. Ob im Café oder im Museum.“ Marie ist klar, dass dies nötig ist, um zum Beispiel Angestellte zu bezahlen, aber: Die Alternativen wie beispielsweise Parkanlagen sind oft schlecht sozial ausgerichtet. Es gebe „viel zu wenige Bänke, wodurch Leute, die beim Gehen Verschnaufpausen brauchen, nicht so von den Parks profitieren können.“ Öffentliche Toiletten? Raritäten. „Im öffentlichen Park kann man nicht mal einfach aufs Klo.“
Sind Singles einsamer?
Da beide Frauen momentan keine festen Partner haben, ist dies natürlich auch ein Thema. Dazu Nadine: „Das Gefühl, sich mit niemandem absprechen zu können, zu 100% für sich selbst verantwortlich zu sein, wenn man häufig gar nicht genau weiß, was man selbst möchte, verstärkt für mich das Gefühl von Einsamkeit.“ In ihrem Umfeld bemerkt sie zumindest von außen betrachtet, „dass Pärchen zukunftsorientierter sind und auch anders planen, da sie gemeinsame Vorstellungen von ihrer Zukunft haben und visieren.“ Sie fragt ganz offen, weil es sie wirklich umtreibt:
„Würden Paare mein Gefühl der Einsamkeit als ein Gefühl der Freiheit definieren?“ (Nadine)
Beide Frauen geben zu, dass jeder Neuanfang und jede neue Situation auch ein Gefühl der Freiheit in ihnen ausgelöst und sie definitiv bereichert hat. Aber auch das sei für sie klar: „Der schönste Ort der Welt ist, wenn du ihn nicht mit anderen teilen kannst, nur halb so schön.“
Diesen Satz können wohl beide unterschreiben, wenn ihn auch nur eine so gesagt hat 🙂
Fotos: privat und Unsplash
Ganz aktuell:
Die junge CDU-Politikerin Diana Kinnert hat ein Buch über die neue Einsamkeit geschrieben, das im März 2021 erscheint. Sie war Mitarbeiterin von Peter Hintze, der leider viel zu früh gestorben ist.