Einfach mehr begegnen
Am Anfang war die Idee, kulturelle Veranstaltungen zu organisieren. Aber nicht irgendwo, sondern bewusst an einem Bücherschrank. Gab es früher Orte, an denen man sich einfach begegnen konnte, so ist das heute anders. War früher ein Brunnen in der Mitte eines Viertels Treffpunkt, so braucht es heute mehr. Mit der zunehmenden Individualisierung hat sich vieles verändert, u.a. sind Menschen auch einsamer geworden. Corona war da nur ein I-Tüpfelchen… Wo sich also einfach begegnen? Und was hat die Stiftung Neuer Raum, mit der ohfamoos kooperiert, damit zu tun?
Er ist mindestens 12 Jahre alt, dieser Gedanke, Treffpunkte für „einfache Begegnungen“ zu schaffen. Damals, im Jahr 2009, lernten sich der Journalist Thomas Linden und Hans Jürgen Greve, der Initiator der Offenen Bücherschränke, kennen. Greve war lange als Stadtplaner und Architekt tätig und hat als Designer und Urheber die BOKX®-Bücherschränke entworfen, die besser als Offene Bücherschränke bekannt sind. Gehen wir aber nochmal 15 Jahre zurück.
Wie war es früher ohne Bücherschränke?
Greve sah als erstes die gesellschaftlichen und sozialen Aspekte. Ein Begegnungsort als Magnet in unseren Vierteln, der fehlte. Den hatte er als Stadtplaner schon immer gesucht. Zudem ist es Ausdruck unserer gesellschaftlichen Situation in der heutigen Zeit: Teilen wird immer wichtiger. Das muss funktionieren, dachte er.
Unser menschliches Wissen umsonst frei zugänglich auf der Straße.
Heute, nach 15 Jahren ist es vielleicht selbstverständlich. Aber damals war es eine neue ungewöhnliche Idee. Und dann machte sich Hans Jürgen Greve auf den Weg ein Stadtmöbel zu entwickeln, das es bis dahin noch nicht gab. Es war ein großes Experiment.
Die Möbel mussten stabil, Vandalismus- und kindersicher, wartungsarm, benutzerfreundlich, regendicht und natürlich schön, standsicher und genehmigungsfähig sein.
Sind sie das, frage ich Hans Jürgen Greve? „Die Möbel sind sehr ausgereift“, lacht er, „weil ich die ersten 120 Schränke selbst gebaut habe“. Und so wechselte er in den ersten drei Jahren stetig zwischen Werkstatt, Zeichentisch und öffentlichem Raum hin und her. Auch die Einweihungen gehörten wie selbstverständlich zu seinen Aufgaben. Nicht nur die Möbel waren aus einer Hand, auch die große Vision der Kultur im öffentlichen Raum war geboren.
Dabei waren die Reaktionen der Menschen vor Ort für Greve immer der unmittelbare Antrieb seines Schaffens, wie er sagt. Dafür stehen Formate wie „Köln liest“ und „Gedächtnis unserer Stadt“, die bereits damals geboren wurden.
Bis heute sind mittlerweile insgesamt 9 Modelle dieses BOKX®-Bücherschrankes im Sortiment, die Greve und sein Team von der Urbanlife e.G. bauen und aufstellen.
Und mehr als 800 Offene Bücherschränke BOKX® stehen heute seit 14 Jahren bundesweit.
Zurück zu Thomas Linden, der 2021 als einer der Köpfe für das Programm der Stiftung Neuer Raum gesorgt hat. Eine Stiftung, die geschaffen wurde mit der Idee, dass man für Veranstaltungen kein Ticket und keine Vorbestellung braucht. „Von Kindern bis zu Senioren sollen alle jederzeit willkommen sein“, betont Thomas Linden.
Deshalb fasziniert der Bücherschrank
Linden erinnert sich gern daran, wie sehr ihn die Entwicklung der öffentlichen Bücherschränke schon seit ihren ersten Tagen fasziniert hat: „Vor über 20 Jahren begann ich das Phänomen des Lesens zu erforschen, seither schreibe ich darüber und halte Vorträge zum Thema in Schulen und auf Kongressen.“
Als dann die Stiftung Neuer Raum ihre Arbeit aufnehmen konnte, wurde es ernst mit dem Begegnungskonzept. Und nicht nur das: Es wurde sogar gleich realisiert. „Im Sommer 2021 entwickelte ich“, freut sich der Kölner, „das Programm zu Köln liest, dem im Winter dann mit Köln liest im Advent die 2. Staffel folgte“. Man merkt ihm an, wie wichtig ihm diese Arbeit ist.
Und im Zentrum stand er, der Bücherschrank.
Mit Recht. Auch wir von ohfamoos waren bei einer dieser Begegnungen dabei. Zwei Künstler sangen und sprachen, es gab Kinderpunsch, Glühwein und Tanz – und das alles inmitten eines Dorfviertels am Rande Kölns.
Wie kommt jemand wie Thomas Linden zu einem solchen Engagement? In seiner Arbeit als Journalist war ihm immer daran gelegen, den Menschen zu vermitteln: „Jeder kann an kulturellen Ereignissen teilnehmen und die Kunst geht jeden an.“
Zugleich habe er gesehen, wie schwer es dem Kulturbetrieb falle, die sozialen und die bildungsbürgerlichen Schwellen zu senken. Die öffentlichen Bücherschränke gingen hier mit einem lebendigen Beispiel voran: „Bücherschränken gelingt genau das, mit spontaner Selbstverständlichkeit.“
Nun steht nicht jeder Bücherschrank da und schon gibt es ein Event drum herum. Dessen ist sich die Stiftung Neuer Raum wohl bewusst. „Genau deshalb“, ergänzt Hans-Jürgen Greve, „führen die Aktivitäten der Stiftung diesen Gedanken fort, mehr noch: Wir kommunizieren diesen in 2022 nun eindringlicher.“
Das Patennetzwerk bildet sich bundesweit
Um das zu tun, gründete sich im Frühjahr 2022 ein Patennetzwerk, dem auch ohfamoos (über meine Aktivität als Patin des Bücherschrankes in Köln-Widdersdorf) angehört. Denn jeder Bücherschrank funktioniert umso besser, je mehr sich die Pat*innen kümmern.
Eine dieser enorm engagierten Bücherpatinnen ist Martina Pophal (s.u.). Sie, die selbst in der Kulturarbeit tätig ist, ergänzt die Worte von Greve wie folgt: „Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Herkunft öffnen das Fenster zum Geschichtenerzählen mit den Mitteln des Theaters, der Musik und des Tanzes. Soloselbständige, die in der jeweiligen Region zuhause sind.“
Martina Pophal und der Bücherschrank in Oberbilk
Ich befrage Martina Pophal, die in Düsseldorf Oberbilk als Patin aktiv ist und – zusammen mit Greve und Linden – den Stiftungsgedanken lebt. Eine ihrer Bühnen ist natürlich auch der Bücherschrank. Und wenn man hört, was allein an diesem Schrank schon alles passiert ist, glaubt man sofort, dass in Zukunft noch viel mehr möglich sein wird.
Martina erzählt: „Die Idee, einen Schrank auf dem Oberbilker Markt aufzubauen, entstand auf dem interkulturellen Fest. Das Geld kam vom von der Stadt, der Kirche, dem Bürgerverein und einer privaten Spenderin.“ Zur Einweihung gab es ein tolles Fest auf der großen Bühne mit Musik, Lesungen, Theater. Die Gäste kamen mit Tüten und Kisten voller Bücher – „und schon wurde gegenseitig in die Kiste gelinst und getauscht“, erinnert sich Martina.
Manche Bücher kamen gar nicht erst in den Schrank …
Bereits ab Beginn hat sich die Oberbilker Geschichtsinitiative im Rahmen des Projektes der Stiftung Neuer Raum „Gedächtnis unserer Stadt“ mit der Geschichte einer Zeitzeugin beteiligt – sie berichtet von der Zeit nach Kriegsende und dem Luftschutzbunker unter dem heute belebten Markt.
Martina Pophal hat jetzt mit Hilfe der Bezirksverwaltung ein neues Projekt gestartet: Jugend an den Bücherschrank.
Gemeinsam mit Jugendlichen wird ein Song aufgenommen, der den Stadtteil aus unterschiedlichen Sichten beschreibt und am 20.5.22 auf einem Fest am Oberbilker Bücherschrank präsentiert wird. Danach wird der Bücherschrank das Lied weiter vermitteln, mittels eines QR-Codes (Gedächtnis unserer Stadt), der an fast jedem Bücherschrank bereits angebracht ist. So werden Geschichten noch lebendiger.
Direkt in den Viertel einfach begegnen
Es bilden sich also neue Räume, worüber die Stiftung sehr froh ist, dieses geradezu forciert. Etwas, womit auch Thomas Linden, dessen journalistische Arbeitsfelder Literatur, Theater, Tanz, Kunst und Fotografie sind, viel verbindet. Geht es doch um die Gestaltung jener urbanen Räume, die in Städten in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden. „Mit dem Zurückdrängen des Autoverkehrs“, sagt Linden, „entstehen neue, unkommerzielle Bereiche, die dazu genutzt werden können, die Viertel lebenswerter zu machen und Möglichkeiten zur Begegnung zu schaffen.“
Wo will die Stiftung Neuer Raum künftig Schwerpunkte setzen?
„In Zukunft werden wir in der Stiftung“, sagt Linden, „noch enger mit den Literaturhäusern in Köln und Düsseldorf zusammenarbeiten. Es wird einen eigenen Bereich mit Veranstaltungen in Schulen geben. Außerdem streben wir Kooperationen mit Konzernen und Bildungseinrichtungen an.“
Und das von Greve schon lange geplante Kulturhandbuch wird nun endlich gemeinsam mit aktiven Bürgern geschrieben. In ihm werden die vielen Ideen für Kultur im öffentlichen Raum niedergeschrieben und für alle zugänglich gemacht.
Man darf gespannt sein, was so ein Bücherschrank demnächst noch so alles über das vielfältige Repertoire guter Literatur zu bieten hat… Ohfamoos wird berichten!
Hier gibt es mehr Infos zur Stiftung Neuer Raum
Fotos via Stiftung Neuer Raum