„Ich bin ein Corona-Fan“ – ach, krass!
Alle motzen über die Corona-Maßnahmen. „Die da oben“ machen alles falsch. Und wir müssen es ausbaden. Ist das wirklich die einzige Möglichkeit auf unsere herausfordernde Zeit zu sehen? Elke über Corona-Fans und Chancen, das Leben zu lieben.
Gleich zu Angang gebe ich zu: Ich habe mich SEHR schwer getan mit all den Maßnahmen, die uns Corona beschert hat. Und einige verstehe ich bis heute noch nicht. Was ich aber immer besser mitkriege, ist das: Es gibt auch positive Auswirkungen. Die wir sehen, wenn wir uns über das hinwegsetzen, das uns so nervt, so (vermeintlich?) einschränkt. Wenn wir aufhören von „schweren Zeiten“ zu reden.
Und noch eins zu Beginn: Es gibt schwer erkrankte Menschen und jeder Corona-Tote ist einer zu viel. Aber darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen. Es soll auch nicht der 182. Artikel darüber sein, was alles Mist ist. Sondern ein Plädoyer dafür, die Welt auch mit Corona als eine zu sehen, wo es Gutes gibt. Also voll der ohfamoose Ansatz 🙂
Auf den Trichter bringt mich eine langjährige gute Bekannte, die ich kürzlich interviewte und die mir, im Café, zuraunt:
„Man darf es ja gar nicht zu laut sagen, aber ich bin ein Corona-Fan.“
Huch, denke ich, jetzt wird’s haarig. Und sie erklärt, wie enorm positiv ihre Familie mit der Familie ihres (neuen) Mannes zusammengewachsen sei. Gerade für Patchwork-Familien war der Corona-Sommer, sagt sie, oft sehr positiv gewesen. Und die Frau kennt viele Familien!
Wieder hellhörig werde ich, als eine Münchner Freundin, die ich nur immer busy kenne, meint: Seitdem sie vorrangig Homeoffice machen könne, sei sie völlig entschleunigt. Sie habe noch immer zu viel Arbeit – sie arbeitet in der IT-Branche – aber sie spare nun jeden Tag bis zu 2 Stunden Fahrt ein. Endlich sei sie wieder zum kreativen Kochen gekommen. Nicht schnell, schnell was schnibbeln, sondern sich so richtig bewusst an den Herd stellen. Ich freue mich für die Freundin, die immer gern & gut kochte, dass sie durch das Homeoffice ihre alte Leidenschaft wiedergefunden hat. Und man sieht es ihr an, als wir skypen: Sie wirkt noch mal schöner als sie ohnehin ist.
Und ein 3. Mal schaue ich genau hin, als eine „alte“ Schulfreundin beschreibt, wie ihr Apothekerleben aussieht. Anfangs kam sie gar nicht hinterher, aber im Sommer sei es bisweilen sogar ein bisschen eintönig gewesen. Wie bitte? Schnell erklärt: Es gab aufgrund umfangreicher Hygiene schlicht weniger andere Krankheiten: Weniger Magen-Darm und anderes, was sich schnell einschleicht, wenn die Hygiene versagt. Auch mal was Positives, fügt die Wahl-Bayerin hinzu.
Ein neues Familienleben
Ich überprüfe das für mich. Auch bei uns hat sich das Familienleben deutlich verändert. Mein Mann, früher ein totaler Vielflieger, ist mehr zuhause, was sich vor allem für unseren Sohn sehr positiv auswirkt. Ich wiederum habe mehr Freiheiten, mich meinen Hobbys zu widmen. Und dann hat mir noch ein Nachbar einen Thermomix verkauft (mein alter Smoothie-Mixer war defekt) und ich denke: Wie schön, dass ich nun zwar schneller kochen kann, dafür aber so viel mehr ausprobiere. Doch mit dieser Anmerkung lasse ich es, denn ich kenne kein Küchengerät mit größerem Potential, Menschen zu spalten – genau das brauchen wir gerade NICHT!
Und: Sicher gibt es auch viele Familien, wo es genau andersherum war und ist. Wo sich die Partner im Homeoffice auf die Füße treten. Auch bei uns war das anfangs so – bis wir dann gemeinsam überlegt haben, wie wir uns räumlich im Haus neu zusammenfinden.
Seitdem hat jeder Rückzugsgebiete – und schon klappt’s.
Und ich bin ja eine Verfechterin dafür, die Beispiele zu wählen, wo es gut funktioniert. Über das, was nicht klappt, berichten viele andere Medien tagtäglich und mit Inbrunst: Wieder eine Schlagzeile. Ich empfehle hier übrigens, den Medienkonsum enorm einzuschränken. Abends z.B. schaue ich grundsätzlich fast keine Nachrichten mehr. Als Frühaufsteherin reicht es mir, wenn ich mir die Tagesthemen Stunden später um 6 Uhr morgens vergegenwärtige. Dann trifft mich die Wucht der Negativberichterstattung auch weniger.
Der Vergleich, den Detlef Untermann in seinem Gastbeitrag bei uns gebracht hat, verliere ich auch nicht aus den Augen. Detlef verglich die Corona-Maßnahmen damit, wie wir uns vor geraumer Zeit an den Haltegurt im Auto gewöhnen mussten. Das war auch nervig, nicht immer verständlich und unbequem – aber wer möchte heute leugnen, sie brächten nichts? Und wie automatisch zieht man den Gurt über die Brust, sobald man im Auto sitzt?! Zwei Sekunden, fertig. Hier könnt Ihr Detlefs Beitrag über Corona lesen und wie wir uns an das Virus anpassen sollten.
Die Herausforderung Nummer Eins heute ist:
Wie gewöhnen wir uns daran, mit Corona zu leben?
Der Neurobiologe Gerald Hüther hat es positiv so formuliert: „Es ist immer gut, wenn etwas passiert, das die alten, eingefahrenen Muster durcheinanderbringt – sowohl im eigenen Gehirn als auch in der Gesellschaft. Leider reagieren die meisten Menschen darauf dann allerdings so, dass sie möglichst schnell den gewohnten Zustand wiederherstellen wollen.“
Was wir gerade feststellen, jenseits des Zorns über das Virus und seine Auswirkungen: Unsere Welt ist stärker ins Wanken gekommen als alle Fridays For Future-Bewegungen es vermocht haben. Denn das Virus hat spürbarere Auswirkungen als das Abschmelzen von Gletschern, die so weit weg von uns liegen. Und wir erkennen durch die Berührung stärker: Dieser Zustand verfestigt sich. Niemals hätte ich mir im Februar 2020 vorstellen können, dass öffentliche Schulen schließen. Im November 2020 danke ich, wenn sie offenbleiben. Und überall bahnen sich Veränderungsprozesse ihren Weg. Von vielen Coaches höre ich, dass sie gar nicht so viel abarbeiten können, wie sich Arbeit auftürmt. Hilft im Wandel doch der, der die Veränderung mitgestalten kann…
Am 8.11.2020 diskutieren wir auf der 3. Ohfamoosen Unkonferenz, wie wir uns ein neues Miteinander vorstellen. Wir sind mega gespannt, welche Rückschlüsse wir ziehen werden. Denn VOR Corona kommen wir nicht mehr – aber wir können mitentscheiden, was NACH Corona wird.
PS: Ich bin mir bewusst, dass ich „gut reden habe“; ein Argument, das gern denen entgegengebracht wird, die aus einer sicheren Position heraus agieren. Ja, ich habe eine wunderbare Familie! Ich lebe in einem Viertel mit netten Menschen – und ich leiste es mir genau deshalb, meinen Mund aufzumachen. Wer, wenn nicht die, die gesund sind und es sich eben leisten können, dürfen gerade jetzt, wo sich so vieles wandelt, appellieren und versuchen, andere mitzunehmen?!