Ich habe die Langsamkeit für mich entdeckt
Sonja hat diesen Beitrag über die Langsamkeit wieder hervorgeholt, denn nach ihrem 3. kompletten Lockdown stellt Sie fest, dass ihr die Langsamkeit geholfen hat, nicht in Einsamkeit zu versinken…
Manchmal frage ich mich, wie ich das früher alles gewuppt habe: alleinerziehende Mutter von vier Kindern, zwei Hunde, Firma, unzählig viele Freunde und soziale Kontakte, Einladungen, Abendessen. Die Liste ist unendlich. Heute dagegen bin ich schon mit zwei Terminen am Tag ausgelastet. Dabei sind meine Kinder aus dem Haus und ich habe weder Firma noch Haustiere.
Es ist leider so: Wir unterschätzen, wieviel Zeit wir brauchen, damit unser Körper den Alltagsstress abbauen kann und sich wieder regeneriert. Als dieser Beitrag im April 2019 erstmals veröffentlicht wurde, steht im Deutschen Ärzteblatt, dass sich jeder zweite Bundesbürger von Burnout bedroht fühlt. Und sechs von zehn Befragten klagen gelegentlich über typische Burnout-Symptome wie anhaltende Erschöpfung, innere Anspannung und Rückenschmerzen. Damit kenne ich mich ein bisschen aus. Ich hatte meinen schlimmsten Stress kurz vor dem Verkauf meiner Firma in 2011. Es war so schlimm, dass mein Körper rebellierte und mir einen Hörsturz verabreichte, der mir über vier Tage treu blieb. Der Schock, eventuell nie mehr auf dem rechten Ohr hören zu können, saß tief. Ich hatte doch nichts anders gemacht als sonst. Mein Leben war eben ein bisschen stressig.
Nachdem mein Gehör langsam wieder zurückkam, blieb mir dennoch ein piepsender Tinnitus. „Von nichts kommt nichts“, sagte schon Ovid und auch mein Arzt meinte, ich sollte doch bitte endlich entschleunigen.
Es geht auch anders!
Während dieser Zeit schenkte mir ein Bekannter Die Entdeckung der Langsamkeit, ein Roman von Sten Nadolny. Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, war mir zum ersten Mal klar: Es geht auch anders!
Heute sind wir Pandemie bedingt entschleunigt und das bringt eine ganz andere Form von Stress mit sich: Einsamkeit!
Einsamkeit scheint ein globaler Megatrend zu sein
Sogar die Financial Times greift neulich das Thema auf und druckt den Beitrag Loneliness and me ihrer Chicago Korrespondentin Claire Bushey. Sie sagt: „Wenn du einsam bist, hört der Lockdown nicht auf.“ Über 278 Leserzuschriften bekommt sie für diesen Beitrag.
Im Sydney Morning Herald beginnt Brook Turner seinen Beitrag mit: „Süchtig nach unseren Smartphones, vom Materialismus entfremdet, politisch zynisch und von der breiteren Gemeinschaft getrennt: Das moderne Leben hat dazu geführt, dass sich viele von uns eher isoliert als gesund fühlen. Dann geriet die Welt ins Stocken – und das Zeitalter der Einsamkeit wurde chronisch.“
In seinem ausführlichen Artikel kommt auch Noreena Hertz zu Wort. Sie ist Autorin des Buches Das Zeitalter der Einsamkeit. Sie sagt: „Auf der ganzen Welt fühlen sich die Menschen so allein, abgeschottet und entfremdet wie nie. Dies war schon vor Corona so, doch bei vielen hat der Lockdown dieses Gefühl noch einmal verstärkt.“
Aber die diversen Lockdowns und der Stress der Einsamkeit scheinen auch das Potenzial zu haben, Änderungen in Maßstab und Geschwindigkeit hervorzubringen. Stress erfüllt eine wichtige evolutionäre Funktion und hilft uns, Bedrohungen und Veränderungen zu erkennen und sich an sie anzupassen.
Ich denke an Sie
Wir wären ja nicht ohfamoos, wenn wir hier nicht auch einen positiven Aspekt aufzeigen würden. Der kommt von Notker Wolf, dem Altabt, der mit Deep Purple auf der Bühne stand. Im Interview zu seinem neuen Buch Ich denke an Sie wurde ihm die Frage gestellt, ob Einsamkeit ein spezielles Phänomen unserer Zeit sei. Wolf antwortete: „Ja, weil wir das Vertrauen in andere Menschen verloren haben. Wir vertrauen nur noch auf uns selbst und sind, überzogen gesagt, manchmal ziemliche Egomanen. Vertrauen bedeutet aber, dass ich mir bei einem anderen Menschen Sicherheit hole….“ Wolf meint auch, dass jeder einsame Mensch ein Stück Eigenverantwortung trägt. „Man braucht nur auf andere Menschen zuzugehen. Ich habe einmal in einem Kloster erlebt, dass mir zahlreiche Konventmitglieder in Privatgesprächen sagten: „Keiner interessiert sich für mich.“ Und meine Gegenfrage war jedes Mal: „Für wen interessierst Du Dich?“ Dadurch entstand oft ein enormes Erstaunen, denn daran haben die meisten nicht gedacht.“
Mit ohfamoos bieten Elke und ich eine Gemeinschaft, ein neues Miteinander an. Ob Blog, Event, Unkonferenz real oder digital oder Beiträge wie Redezeit. Wir erfinden uns neu und bleiben im Dialog.
Ich wünsche mir für das neue Jahr, dass sich die Menschen durch diese Pandemie langsam neu erfinden, reflektieren und aufeinander zugehen. Und dass wir keine Angst vor Veränderungen haben. Denn es wird andere Krisen geben – und um diese zu meistern brauchen wir Familie, Freunde und Gemeinschaft.
Schneckentempo – mein neues Ich
Ich habe mich neu erfunden. Das war am Anfang nicht leicht, denn wir sind ja alle über Jahre trainiert, Dinge schnell zu erledigen. Aber sollte ich doch wieder in alte Muster verfallen, habe ich einen eingebauten Wecker: meinen Tinnitus 🙂
Fotos: Sonja Ohly