Warum ein Merz nicht rumeiert
Die Christlich-Demokratische Union oder „CDU Deutschlands“, wie sie sich selbst gerne nennt, hat noch die Chance, zur wirklichen Volkspartei zurückzufinden. Die Chancen dafür waren selten so gut wie jetzt. Das ist die Prognose von Thomas Rietig, heute einmal wieder unser Gastautor. Thomas zählt in Berlin zu den Hauptstadtjournalisten und betont: Der von der Basis designierte Vorsitzende Friedrich Merz muss nur zu seinen jüngsten Worten stehen. Ein Blick von außen auf die Partei.
Die Entscheidung, den neuen CDU-Vorsitzenden nach zwei mehr oder weniger gescheiterten Versuchen durch das Parteivolk wählen zu lassen, war die einzig richtige. Merz‘ Vorgänger und seiner Vor-Vorgängerin haftet der Makel an, vom Partei-Establishment beziehungsweise von Angela Merkels Gnaden an das Amt gelangt zu sein. Selbst das eigentlich urdemokratische Element eines Parteitages hat offenbar in dieser Partei nicht mehr den Status der wirklichen – also nicht nur der formalen – Repräsentanz der Mitgliedschaft.
Wir leben in Zeiten, da ein „Das haben wir immer so gemacht“ zu sofortiger Abstrafung durch die Empörungsindustrie führt.
Und wer danach herumeiert, hat schon verloren… Wäre es das „über die Köpfe der Mitglieder hinweg“ alleine gewesen, so hätten Annegret Kramp-Karrenbauer oder Armin Laschet vielleicht noch durch konkretes, entschlossenes Handeln die nötigen Punkte an der Parteibasis für einen beherzten Wahlkampf sammeln können. Aber es kamen die bekannten schwachen Reaktionen in herausfordernden Konstellationen dazu:
Bei Kramp-Karrenbauer bedurfte es der Intervention der Kanzlerin, damit die Thüringer CDU auf einen halbwegs liberalen Kurs schwenkte und so wenigstens einigermaßen das Gesicht der Bundespartei in der Kemmerich-Affäre wahren konnte.
Kurzer Exkurs: Hier bleibt allerdings die Frage, wieso ein vergleichbar unprofessionelles Verhalten der FDP-Granden Christian Lindner und Wolfgang Kubicki den Wahlerfolg und das innerparteiliche Standing offenbar kaum beeinflusst hat. Die Arbeitshypothese dafür heißt: Die FDP-Wählerschaft ist nach rechts hin toleranter als die Merkel-CDU. Aber das ist ein anderes Thema.
Schluss mit der stetigen Verunsicherung
Bei Laschet war es das ständige Störfeuer aus München, verstärkt durch den Lacher im Katastrophengebiet. Mit der Folge: Steigende Verunsicherung der CDU-Mitglieder. In einer Zeit, da die quasi naturgegebene Führungsperson nicht mehr Visionen vorgeben konnte oder wollte – langfristige Perspektiven etwa in Sachen Klima.
Natürlich werden Merkels Verdienste und Fähigkeiten bleiben, die hierzulande vielleicht erst später so gewürdigt werden, wie es in vielen Nachbarländern bereits geschehen ist: ihre abwägende, vom Ende her orientierte, stets Kompromisse suchende Verhandlungsführung, ihre Bescheidenheit und (hoffentlich dauerhafte, wir denken an Helmut Kohl) Skandalfreiheit.
Merkels größtes Versäumnis dagegen wird auch in Erinnerung bleiben: Den Menschen, die der Politik in einer immer komplexer werdenden Welt oft zweifelnd zuschauen, nicht anschaulich genug erklärt zu haben, warum sie so und nicht anders handelt. „Wir schaffen das!“ war zwar ein schöner Satz, und er passte in den Kontext, aber wenn wir ihn hinterfragen, stellt sich heraus:
„Wir schaffen das!“ war ein Allgemeinplatz, denn es gab ja keine alternative Option dazu. Eigentlich hätte sie dafür fünf Euro ins Phrasenschwein stecken müssen.
Nun ist Friedrich Merz nicht dafür bekannt, stets nur wohlüberlegte, inhaltsschwere Sätze in elegantem, politisch korrektem Sprachstil rauszulassen. Auch von ihm sind wohl Allgemeinplätze zu erwarten. Aber die Parteibasis hat entschieden, dass sie mit seinen Worten besser zurechtkommt als mit zu viel verbaler Resilienz. Er eiert eben nicht herum, jedenfalls hört er sich meistens nicht so an.
Was Merz zum neuen CDU-Vorsitzenden qualifiziert
Wer mit der Unionsbasis diskutiert, trifft immer wieder auf Menschen, die die übergroße Vorsicht beim Reden und das ständige Auf-die-Goldwaage-Legen jedes Wortes vor lauter Angst, jemanden zu verprellen, deutlich abstößt. Deutlicher auch als zum Beispiel fragwürdige Maskendeals oder ausführliches Eingehen auf die Lobby-Leute der Großen aus Industrie, Wirtschaft und Handel.
Ein mindestens verbales Eintreten für den kleinen Mann beziehungsweise die kleine Frau trauen die Mitglieder dem reichen, unabhängigen Herrn Merz eher zu als dem „Außenpolitiker“ Norbert Röttgen oder dem weithin unbekannten Merkel-Amtschef Helge Braun. Außenpolitik hat schon im Wahlkampf keine nennenswerte Rolle gespielt. Wie soll sie das dann in einer innerparteilichen Frage?
Das kann man als Problem empfinden. Aber um es zu ändern, müsste wohl erst mal die Verunsicherung über den innenpolitischen Standort der Partei beendet werden.
Friedrich Merz in den Niederungen der Tagespolitik
Dazu müsste man sich in die Niederungen der Tagespolitik begeben, der Probleme in der Verwaltung, der Behördenwillkür, der überbordenden Egomanie und dem ausufernden Proporzdenken verschiedener Bevölkerungsgruppen. Röttgen haben sie das nicht geglaubt, der sich damals schon zu fein schien, nach verlorener Landtagswahl als Oppositionsführer nach Düsseldorf zu gehen. Bei Helge Braun wussten sie es nicht.
Aber Merz, der mit Fridays for Future auch mal in den Clinch geht, der nicht jede Mode mitmacht, der sich auch manchmal in längst überholten Frau-Mann-Bildern verheddert – dem trauen sie das zu.
Und genau dort sollten er und das Team, das er um sich versammelt, auch hin. Nur so kann das verlorene Vertrauen zurückgewonnen werden. Das Partei-Establishment hat mit dem Entschluss zur de-facto-Direktwahl – also praktisch mit der eigenen Entmachtung – gezeigt, dass es die Zeichen der Zeit erkannt hat, so wie Bundeskanzler Olaf Scholz erkannt hat, dass an einem Gesundheitsminister Karl Lauterbach kein Weg vorbeiführt, wenn er die Ampel-Politik basisakzeptabel gestalten will.
Merz gibt hin und wieder den Elefanten im Porzellanladen der angeblich sozialen Medien – ob freiwillig oder nicht, tut nichts zur Sache. Aber er erweckt den Eindruck, die anschließenden Shitstorms aushalten zu können. Ist es nicht das, was ihn trotz seines Images als abgehobener Finanzmanager als „einen von uns“ qualifiziert, sprich: was die CDU gerade braucht? Zumindest nach innen hin?
Einer, der das konnte, war übrigens Helmut Kohl. Er gab sich gerne als „einfacher Bundeskanzler“ und kokettierte mit seinen angeblich mangelnden intellektuellen Fähigkeiten. Zugleich war auch die Kohl-CDU eine Partei mit einem sozialen Gewissen.
Wenn Merz dazu selber nicht in der Lage ist, muss er wenigstens so beratungsfähig sein, dass er ein Team aller Schattierungen und Flügel um sich versammelt und deren Bedürfnisse aufeinander abstimmt. Der Eindruck muss sich verfestigen:
Merz und Team dienen sowohl „dem Land“ und kommen den Wünschen der bisher noch schweigenden Mehrheit entgegen.
Das ist gar nicht so schwer, wie jede Umfrage zu den Corona-Maßnahmen zeigt: Immer gibt es eine Mehrheit, die für ein angemessenes Bündel von Maßnahmen ist. Die Gegner sind laut, aber nicht so zahlreich, wie es sich anhört. Es ist dieselbe Sorte reisender Lautsprecher, die einst auf der linken Seite jahrelang Rabatz gemacht hat, ohne dass ihren Forderungen groß Beachtung geschenkt wurde. Das haben die Linken gerade zu spüren bekommen.
Und auch der rückläufige Beifall für die nach rechts driftende AfD zeigt überdeutlich:
Momentan ist ein bisschen Gelassenheit bis Ignoranz gegenüber den radikalen Rändern in der Tagespolitik angebracht. Die dadurch wieder heimatlosen Wähler bekommt Merz auch ohne rechtspopulistische Phrasen. Sehr beruhigend, dass er in einem seiner ersten Interviews dem „Spiegel“ gesagt hat: „Wenn irgendjemand von uns [also in der CDU, TR] die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an.“
Und links von Friedrich Merz?
Links von Merz gilt es sozialpolitische Pflöcke einzurammen, ohne gleich die Konservativen zu vergraulen. Nötig ist das vor allem, damit sich nicht wieder die Lücke zwischen der CDU und der SPD auftut, die Merkel erfolgreich auf Kosten der Sozialdemokraten füllte.
Auch das kann funktionieren. Dass Merz Mario Czaja als Sozialexperten prominent platziert, spricht dafür, dass er diese Aufgabe erkannt hat und Konsequenzen ziehen will. Wer ihm jetzt noch seine alten neoliberalen oder „Gegen-die Ehe-für-alle“-Ansichten vorhält, gewinnt nicht viel. Wir erinnern uns: Auch Merkel war auf Merz’ Linie, als der die Steuererklärung auf dem Bierdeckel propagierte. Aber lange hielt das nicht an.
Vorschlag für Reizthemen: Er muss gar nicht so weit links abbiegen, dass er die CDU mit fliegenden Fahnen ins Lager derjenigen wechselt, die das Abtreibungs-Werbeverbot für Ärzte aus dem Strafgesetzbuch streichen. Er beziehungsweise der (Noch-) Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus können im Bundestag stramm Konservative dagegen wettern lassen, und gut ist.
Aber die Ampel wird es trotzdem abschaffen, und auch das ist gut so.
Ähnlich ist es mit der Cannabis-Freigabe: Sich jetzt ewig darin zu verbeißen, obwohl es nicht gerade den Markenkern der Union trifft, wäre genauso l‘art pour l‘art wie das Gejammer vieler Twitter-Blasen darüber, dass Merz jetzt Vorsitzender wird. Gewählt hätten sie auch eine Röttgen-CDU nicht.
In der Opposition wieder zu sich selbst finden
In der Opposition muss die Union wieder zu sich selbst zu finden: Zu einer konservativen Partei, die wie selbstverständlich soziale und liberale Standpunkte mit rüberbringt und allzu rechte Positionen mehr oder weniger still absorbiert und korrigiert.
Es gibt auch aufgeklärten Konservatismus. Neben dem Pochen auf innerparteiliche Geschlossenheit und der Hinwendung zum Klimaschutz – denn daran kommt keine Partei mehr vorbei, die künftig noch einen Blumentopf gewinnen und weiter wachsen lassen will – muss die wichtigste Lehre aus dem Wahlkampf sein:
Nicht immer nur auf die Fehler der anderen verweisen, sondern mit eigenen Inhalten punkten.
Die Zeiten, da es sich die Mitglieder an der Macht als KanzlerInnenwahlverein gemütlich machen konnten, sind erst einmal vorbei.
Gastautor Thomas Rietig ist Journalist in Berlin. Zunächst arbeitete er als Lokalredakteur in Frankfurt am Main, dann in Bonn und Berlin fast 30 Jahre als Korrespondent, Reporter, Hauptstadtbüroleiter und stellvertretender Chefredakteur für den Deutschen Dienst der Nachrichtenagenturen Associated Press und der dapd. Seit die 2012 pleite ging, ist er freier Journalist und Autor. Eines seiner Spezialgebiete ist Verkehrspolitik.
Warum Elke Tonscheidt 2019 an den Mut von Friedrich Merz appelliert hat.
Fotos: Unsplash, via Friedrich Merz und privat; Fotocollagen: Sonja Ohly
Dieser Argumentation kann man sich bezüglich der Logik und inhaltlichen Darstellung sehr gut anschließen. Die Wahl von Merz zum Parteivorsitzenden wird sicherlich der Oppositionspartei CDU zu einem schärferes Profil und eine deutlichere Abgrenzung zu den amtierenden Regierungsparteien verhelfen. Nach meiner Einschätzung aber nicht hinreichend sein im Sinne eines Neuaufbruchs in Richtung Rückkehr in die Regierungsverantwortung in vier Jahren. Aktuelle Beliebtheit bei der Parteibasis kann langfristig nicht über die Vorbelastungen und Defizite hinwegtäuschen, die Merz als Person mitbringt. Ich würde der CDU eine Führungspersönlichkeit wünschen, welche wirklich für einen Neubeginn und inhaltlichen Substanzgewinn steht, nicht nur für kurzfristige Profilschärfung – letztere alleine halte ich nicht für nachhaltig.
Wo bleibt sein Statement in der Causa „Maaßen“?