Sag NEIN. Auch zur Freiheit?
Jeannette Hagen machte mit ihrem Impuls zum Thema Freiheit den Auftakt zu unserer 2. Ohfamoosen Unkonferenz in Essen. Ich hatte sie schon am Abend zuvor gleich erkannt, die Frau mit den tollen Locken und der ruhigen Stimme. Ganz gerade stand sie und schaute unsere Teilnehmer interessiert an. Jetzt steht sie vor einem an die Wand projizierten Foto und sagt: „Freiheit macht Angst!“. Das verwirrt mich, aber den Satz schreibe ich mir schon mal auf. Ich will unbedingt wissen, was es damit auf sich hat.
Das schwarz-weiße Foto an der Wand zeigt eine Straße – menschenleer. Am Ende der Straße sieht man eine Mauer. Es dauert einen ganzen Augenblick, bis mir dämmert, das ist die Berliner Mauer, die Trabbis, das ist Ostberlin. Die Jahreszahl im Bild bestätigt es: 1982. Dann beginnt Jeannette zu erzählen, wie ihre Eltern und sie mit Freunden damals in den Westen fliehen wollten. Aber den Freunden gelingt die Flucht als erstes, und Jeannettes Familie steht seitdem unter Verdacht. Sie werden befragt und beobachtet, alles passiert genau in dieser Straße. An Flucht ist nicht mehr zu denken. Zwei Jahre vor Mauerfall darf Jeannettes Mutter dann in den Westen – aber ohne ihr Kind. Jeannette bleibt zurück und hat Angst, ob sie ihre Mutter jemals wieder sehen wird.
Spätestens jetzt hat jeder im Publikum Gänsehaut. Auf ihre Frage, wer denn noch in Ostdeutschland aufgewachsen sei, hebt niemand die Hand. Wir kennen diese Erfahrung nicht.
Jeanette erzählt weiter, wie sie in Berlin nach dem Mauerfall eine Flasche Sekt kaufen will. Sie geht ins Geschäft und steht vor einem Regal mit vielen verschiedenen Sektmarken. Sie steht davor und steht davor. Sie kann sich nicht entscheiden. Es sind einfach zu viele Möglichkeiten. Sie ist unsicher, welche Marke sie kaufen soll.
Ihre persönliche Geschichte lässt Jeanette die Freiheit besser begreifen und sie vehement verteidigen. Sie kann verstehen, dass viele Menschen sich derzeit unsicher fühlen, weil sie die politische Entwicklung nicht verstehen. Es wird von Seiten der Parteien nicht gut genug kommuniziert. Aber auch persönlich, sagt sie, müssen wir aufpassen, dass wir unsere Freiheitsrechte nicht einfach aufgeben, wie z.B. mit dem Smartphone. „Lassen wir zu viel zu?“, fragt Jeannette und zitiert Benjamin Franklin:
Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu erlangen, wird am Ende beides verlieren (Benjamin Franklin)
Angst vor Freiheit
Angst vor Freiheit kann durch vieles entstehen, meint Jeannette. Aus Abhängigkeit so wie früher in Ostberlin, man forderte, dass die da oben das doch bitte mal regeln. Oder Anpassung, so wie sich viele Teenager vollkommen gleich kleiden, mit Jeans, Hoodie und Sneakers, um ja nicht aufzufallen. Sie haben Angst aus der Masse herauszutreten. Angst vor Freiheit kann aber auch durch Aggression und Gewalt entstehen. Darüber müsse man sich im Klaren sein. Freiheit geht immer nur auf die Kosten anderer. So wie wir Ressourcen anderer ausbeuten.
Jeannette hat für sich jedoch eine Antwort gefunden. Sie möchte mehr „Nein“ sagen. Sie zitiert Friedrich Engels:
Freiheit ist die Notwendigkeit.
Für Jeannette bedeutet Verzicht mehr Freiheit. Sie sagt, „wir müssen lernen auf mehr zu verzichten.“ Denn für Jeannette steht fest: Nicht nur politische Systeme werden uns einschränken, sondern auch das Klima. Inseln werden verschwinden, Menschen werden sich auf den Weg machen. Es sei daher Zeit, dass wir unsere Demokratie mehr hinterfragten und dass Menschen sich in Zukunft wieder stärker verbinden.
Jeannettes Impuls hallt bei mir nach. Wie stellt sie sich den Verzicht für mehr Freiheit vor? Wir haben ihr dazu ein paar Fragen gestellt:
Jeannette, Du hast Freiheit auch als „von etwas frei zu sein“ definiert und entscheidest Dich bewusst FÜR Verzicht. In diese Richtung gehen ja auch Deine Kolumnen für den Berliner Tagesspiegel. Was empfiehlst Du Menschen, die ihren Sinn zu einem großen Teil im Konsumieren sehen?
Jeannette Hagen: Das ist schwierig. Mit Empfehlungen ist es ja ähnlich wie mit Ratschlägen. Viele Menschen fühlen sich schnell bevormundet und reagieren mit Trotz. Ich denke, man kann es nur vorleben. Also sagen: „Schau mal, ich mach das so und es macht mich wirklich glücklich.“ Damit rege ich vielleicht zum Nachdenken an. Dank des Internets funktioniert das ja auch in einem größeren Rahmen. Das können wir nutzen. Dort oder auch im privaten Umfeld helfen natürlich auch immer knallharte Fakten.
Wie meinst Du das?
Seit meine jüngste Tochter, die sehr gern einkauft, weiß, dass Delphine und andere Meeresbewohner sterben, wenn sie online bestellt und die Waren vom anderen Ende der Welt über die Meere geschippert werden, oder dass Mädchen, die in ihrem Alter sind, den ganzen Tag an der Nähmaschine sitzen, damit sie sich ein T-Shirt für 3 Euro kaufen kann, spricht sie mit mir über ihre Wünsche und wir wählen gemeinsam ganz bewusst aus.
Und manchmal sagt sie dann selbst, dass sie es doch nicht braucht oder sucht sich einen Laden in der Stadt, wo sie es direkt kaufen kann. Und natürlich kann man auch immer dazu anregen zu hinterfragen, warum der- oder diejenige konsumiert. Letztendlich geht es ja um Bedürfnisse und darum, gesehen, akzeptiert, geliebt oder beachtet zu werden. Menschen, die erfüllt sind, konsumieren weniger. Das ist Fakt. Insofern ist der Konsum in unserer Gesellschaft auch Ausdruck eines gewissen Mangels an Menschlichkeit.
Manche meinen ja, dass wir nur genügend viele Ge- und Verbote aufstellen sollten – um gesellschaftspolitisch einen anderen Weg zu gehen, um klimaneutral zu werden, die Umweltbilanz zu verbessern und uns so aufzustellen, dass wir auch in Zukunft noch gut leben können. Was wird da vergessen?
Dass wir uns gleichzeitig unsere Freiheit damit beschneiden. Im Grunde ein Armutszeugnis, denn der Mensch ist ein intelligentes Wesen, das in der Lage ist, seine Probleme aus sich heraus zu lösen. Wir bräuchten niemanden, der uns sagt, was zu tun ist. Wir sind mit allen Werkzeugen ausgestattet, die wir brauchen.
Wir hören ein dickes ABER…
Aber wir sind eben auch verblendet, gierig, machtbesessen, bedürftig und wir verdrängen. Das ist auch Teil unserer Wirklichkeit. Also wird es so kommen, dass die Zwänge automatisch eintreten, wenn das Klima irgendwann richtig verrückt spielt. Eigentlich stecken wir da in einem beachtlichen Dilemma – jetzt konsequent handeln und auch verbieten oder später horrende Kosten und Zwänge bewältigen, weil wir nicht gehandelt haben. Es ist ja nicht ohne Grund, dass die Politik so zögerlich ist.

Jeannette Hagen (Mitte) erläutert, was sie unter Freiheit versteht. Links neben ihr Nicole Reimer und Oliver Gnad. Rechts von ihr: Uwe Alschner und Franziska Kind. Foto: Elke Tonscheidt
Was könnte, müsste schneller gehen?
Ich denke, bestimmte Rahmen müssten und könnten abgesteckt werden. Da bin ich ehrlich, das dauert mir auch oft zu lange und da ärgert es mich, dass Lobbyverbände den Takt vorgeben. Plastikgeschirr hätte man schon vor Jahren verbieten können, Plastiktüten auch und es gäbe noch viele Dinge, auf die wir ohne Weiteres verzichten können. Nach denen auch irgendwann kein Hahn mehr krähen würde. Im Zusammenhang mit Verboten wird ja viel von Vernunft gesprochen, interessanterweise oft genau von jenen, die ihr Recht auf die persönlichen Freiheiten nicht aufgeben wollen. Man solle doch vernünftig sein, also auf dem Teppich bleiben, statt Verbote zu erlassen, wird dann argumentiert.
Du hältst von diesen Appellen an die Vernunft nicht viel?
Genau, und mal ehrlich: Ist es vernünftig, mit einem tonnenschweren Auto durch die Innenstädte zu fahren? Ist es vernünftig, sich jedes Jahr ein neues Handy zu kaufen? Ist es vernünftig, Tiere massenhaft in Ställe einzusperren, sie zu mästen, mit Antibiotika vollzupumpen, nur damit wir billiges Fleisch haben? Nein, das ist nicht vernünftig. Es ist persönlicher Luxus, der auf Kosten anderer geht. Man kann das aber nicht von heute auf morgen verbieten. Man kann nur ein Bewusstsein dafür schaffen, Alternativen aufzeigen, Rahmenbedingungen ändern. Ansonsten landen wir in einer Diktatur. Und wie gesagt: eine Diktatur ist ein Armutszeugnis. Freiheit gegen Bequemlichkeit und Fesseln einzutauschen, kann nicht der Weg sein.
Nicht jeder Mensch ist emphatisch. In Deinem Buch „Die leblose Gesellschaft“ schreibst Du darüber, wie wir Deutschen den Kopf über das Herz gestellt haben. Wie das Fühlen vom Denken dominiert wird. Das was passiert, wenn Härte statt Verletzlichkeit angesagt ist. Macht uns das unfrei?
Das macht uns auf jeden Fall unfrei. Wir leben in einer dualen Welt. Es gibt also Gegensätze und Pole: heiß-kalt, hell-dunkel, großzügig-geizig, fröhlich-traurig und so weiter. Dazwischen liegen Tausend Farben Grau. Frei bin ich nur dann, wenn ich mich bei Entscheidungen frei zwischen den Polen bewegen kann. Wenn ich also Handlungsoptionen oder Wahlmöglichkeiten in meinem Handeln habe. Wenn ich nur rational an eine Sache herangehe, blende ich ein ganzes Universum an Möglichkeiten aus. Das wäre so, als würde ich immer nur die Hälfte von etwas sehen – nie das Ganze.
Du votierst dagegen für Intuition und mehr Emotionen…
Richtig. Unsere Intuition oder unser Bauchgefühl sind ein wichtiger Ratgeber. Ich muss nicht immer auf sie hören, aber wenn ich sie ausblende, fehlt ein wichtiger Teil. Die Wissenschaft weiß heute, dass Herz und Gehirn kommunizieren, dass es Verbindungen über elektrische Impulse gibt. Auch im Darm existieren über 100 Millionen Nervenzellen. Der Volksmund sagt nicht umsonst, dass wir Schmetterlinge im Bauch haben, wenn wir verliebt sind. Die Nervenzellen im Darm kommunizieren mithilfe derselben Transmitter wie das Gehirn.
Ich glaube, wir stehen da erst am Anfang vieler Erkenntnisse, die das Denken über unseren Körper und darüber, was wir für ein faszinierende Wesen und wozu wir in der Lage sind, enorm erweitern werden. Vor allem glaube ich, dass unser Potential und damit auch unsere Freiheit wachsen werden, wenn wir erst einmal verstehen, was in uns steckt. Und mit Verstehen meine ich nicht, dass wir es nur mit dem Geist erfassen. Es geht um eine ganzheitliche Sicht. Da reicht es nicht, nur zu denken, da gilt es auch, zu fühlen, also das Wissen buchstäblich mit den Sinnen zu erfassen.
Wow, viele tolle Denkansätze, liebe Jeannette, wir danken Dir!
Für alle die sich nichts unter einer Unkonferenz vorstellen können, haben wir ein paar Impressionen im Video gesammelt.
Fotos und Video: Sonja Ohly