„Darf ich ihn anfassen?“ Eine Reise mit Umwegen
Auf ohfamoos berichten wir, Sonja Ohly und ich, immer wieder gern über Menschen. Leute, die uns auffallen. Frauen oder Männer, die etwas Ungewöhnliches tun; Jugendliche, die bereits im frühen Alter etwas bewegen; ältere Menschen, die für etwas stehen, was uns begeistert. Eine solche Dame habe ich kürzlich kennenlernen dürfen – auf meiner Reise mit Umwegen.
Ich treffe sie an einem Nachmittag auf einem Bahnsteig im südlichen Niedersachsen. Mein Sohn und ich warten auf einen Zug, neben uns zwei ältere Frauen – Schwestern, wie ich später erfahre. Wie bei der Bahn leider manchmal üblich, sollen an diesem Nachmittag eine ganze Reihe Züge ausfallen, doch der Reihe nach. Unseren Zug erwischt es jedenfalls: Erst heißt es: 10 Minuten verspätet, dann: Zug fällt aus. Mein Sohn hat noch nie in seinem noch kurzen Leben einen Zug verpasst, allein deshalb schon eine gute Erfahrung, denn was macht man dann eigentlich? Wir haben Glück, sind nicht in Eile, können einfach den nächsten Zug abwarten.
Nicht so die Dame, mittlerweile allein, neben uns. Ihre Schwester hatte sich im guten Glauben verabschiedet, dass der Zug gleich kommen würde. Eine Reise mit Umwegen war nicht geplant. Nun stand sie mit ihrem Rollator allein neben uns. Sofort spreche ich sie an. Ob sie mit uns das Gleis wechseln wolle. Der erste dankbare Blick, dass nicht alle davonstürmen. Wir bringen sie zum Aufzug, warten unten auf sie, versuchen gemeinsam die nächsten Zugverbindungen auszuloten. Wir führen bereits ein nettes Gespräch und nicht nur mein Sohn schaut sie immer wieder so freudig an.
Sie strahlt so viel Liebenswürdigkeit aus, wird nicht hektisch und vertraut, dass ihr geholfen wird.
Dabei muss sie so viel weiter als wir und ich beginne mir Gedanken zu machen, wie sie es mit ihren 87 Jahren schaffen wird. Dann wird es unruhig am Gleis. Viele sprechen andere Reisende an, ob sie etwas wissen, oder versuchen, über ihre Bahn-Apps etwas herauszufinden, was jedoch nicht gelingt. Eine Frau ruft: „Münster ist gesperrt.“ Warum und ob das stimmt, das weiß keiner. In Münster muss „unsere“ Begleiterin aber umsteigen. Eine Reise mit Umwegen wird unausweichlich…
Der nächste Zug fährt ein. Ich vermute, dass der für sie nicht der beste ist, spreche einen jungen Mann an, ob er sich auskenne und sich vor Ort um die Dame kümmern könne. Er signalisiert: Macht er. Ich erkläre ihr, dass unser Zug warte und der junge Mann für sie da sei, und steige winkend ein. Mein Sohn ist empört, dass sie zurückbleiben soll. Ich sage ihm: „Sie ist nicht allein, schau, der junge Mann ist bei ihr.“ Aber mein Sohn fängt laut an zu weinen: „Nein, Mama, sie soll nicht dort bleiben, lass uns wieder aussteigen.“ Er kann sich gar nicht beruhigen.
Eine Reise mit Umwegen für uns und die ältere Dame
Der Zug hält nun schon mehrere Minuten länger als üblich. Viele Reisende sind unsicher, steigen ein, aus, wieder ein. Keinerlei Ansagen am Bahnhof. Am Ende steht die liebenswürdige und immer noch heitere Dame neben uns im Zug und wir fahren gemeinsam weiter. Der junge Mann kommt sogar noch mal rein und meint, seine App zeige jetzt, sie solle besser wieder aussteigen. Aber wir drei waren jetzt ein Team. Sie ist sehr gerührt ob der Tränen. „Ist das wegen mir?“ Ich sage ihr, dass mein Sohn sie nicht alleine lassen wollte. Ein neuer dankbarer, jetzt auch sehr gerührter Blick aus strahlendblauen Augen und dann fragt sie:
„Darf ich ihn anfassen? Ja, schrecklich, man weiß heutzutage gar nicht mehr, ob man jemanden berühren darf.“
Liebevoll streicht sie meinem Sohn über die Arme. „Beruhige Dich, alles ist gut.“ Auch ich bin jetzt sehr gerührt, machen solche Szenen für mich das Leben aus: #volldasguteleben, wenn Menschen füreinander da sind, nicht wegschauen oder einfach ihr Ding machen, empathisch sind. Und gerade dann, wenn alt auf jung trifft, bin ich immer voller Dank, dass sich Generationen auf ihre Weise verstehen.
Wie die Geschichte ausging?
Wir fahren noch mehrere Stationen gemeinsam, erfahren, dass es vermutlich Oberleitungsschäden sind, die Münster tatsächlich unpassierbar machen, steigen dann an unserem kleinen Zielbahnhof im Münsterland aus. Dort sind bereits mehrere Zugreisende gestrandet. Eine junge Familie mit Baby, zwei Monate alt, muss ebenfalls noch ins Ruhrgebiet. Alle wissen nicht viel, immer wieder werden Züge angekündigt, dann wieder ersatzlos gestrichen. In Gedanken habe ich schon die Option im Kopf, die Dame bei uns im Hotel einzuquartieren, damit sie am nächsten Tag weiterreisen könne. Sie bleibt aber optimistisch und scherzt:
„Das Gute ist, Weihnachten sind wir alle zuhause.“
Humor hat sie also auch noch. Am Abend, es ist bereits nach 19 Uhr, geht es für sie mit einem Ersatzzug, der plötzlich unangekündigt auftaucht, weiter. Manche sind da bereits auf Taxis ausgewichen, wie die Familie mit Baby. Auch „unsere“ Dame wird später in der Nacht noch ein Taxi bemühen müssen, denn bis zu ihrem Zielort kommt sie mit dem Zug nicht mehr, nur noch bis Essen. Um 22.30 Uhr ist sie endlich zuhause. Eine Reise, die normalerweise anderthalb Stunden Bahnzeit kostet, ist nach sieben Stunden geschafft.
Am nächsten Tag ruft uns die Dame an, sie möchte vor allem wissen, wie es meinem Sohn geht. Ob er wieder fröhlich sei und alles überstanden habe. Wir wissen, wir haben eine außerordentliche Frau kennengelernt und ich bin glücklich, dass alles gut ausgegangen ist, wenn auch auf Umwegen.
Fotos: Pixabay