Karneval digital? Karneval sozial!
Was passiert dieses Jahr mit Karneval? Gastautor Sven Hansel, selbst leidenschaftlicher Karnevalist, hat sich tief durch die Massen an jecken Digital-Events durchgegraben und eine tolle Grundtugend des Karnevals gefunden. Auf ohfamoos beschreibt der Kölner, wie sozial der Kölner Karneval gerade 2021 ist.
„Der Kölner Karneval definiert sich an den tollen Tagen über gewisse Grundparameter: Das Kondenswasser fließt an den Innenscheiben der Kneipen hinab, weil sich die Jecke in völlig überfüllten Räumen tummeln. Es wird sich eingehakt und geschunkelt, gebützt, gesungen und gelacht. Es ist ein Stück weit die Flucht aus dem Alltag“.
Bastian Ebel, Karnevalsfachmann des Kölner EXPRESS, bringt es auf den jecken Punkt: Was selbst Kriege und andere Krisen nicht derart dramatisch beeinträchtigen konnten – Corona bekommt es hin, mühelos. Und das liegt eben an dem, was Journalist Ebel „Grundparameter“ nennt. Diese sind bis ins Mark getroffen worden.
Karneval ist ein klassenloses Fest des engen Miteinanders und der Gemeinschaft. Der Professor als Cowboy schunkelt mit dem Hilfsarbeiter im Piratenkostüm, die Ärztin im Blumengewand flirtet mit dem Lageristen, der sich als Pilot uniformiert hat. Kostümiert sind alle Menschen gleich. Wer einmal (nicht nur) in Köln gefeiert hat, weiß, dass das tatsächlich genauso stattfindet.
Im Karneval über die Stränge schlagen
Und nicht allein das: Gefragt, was ihn am meisten am Karneval reize, antwortete Peter Brings, Frontmann der gleichnamigen Band, einmal, dies sei „das Anarchische“. Also, das über die Stränge schlagen, das sich mal fünf Tage am Stück nicht an Regeln halten und dem bürgerlichen Verhalten damit ein Schnippchen zu schlagen. Genau das, was in Zeiten einer Pandemie maximal kontraproduktiv ist.
Das führt denn auch dazu, dass Corona der maximale Stimmungskiller ist. Viel drastischere Ereignisse führen nicht zu einem solchen erzwungenen Vollverzicht. Feierverbot, Punkt, Ende, Aus.
So sorgte der erste Golfkrieg dafür, dass 1991 kein Rosenmontagszug stattfand. Ebenso gab es, beispielsweise wegen der Weltwirtschaftskrise oder durch die Weltkriege, in manchen Jahren sowohl den Zugausfall als auch kein Dreigestirn.
Aber dass der Karneval derart flachfällt, findet in der Geschichte des Festes erstmalig statt.
Zeitzeugen berichten, dass selbst in den Luftschutzbunkern gemeinschaftlich und ganz leise kölsche Lieder gegen die Angst angestimmt wurden, schließlich gehörte Köln zu den am meisten bombardierten Städten des Dritten Reichs.
Da liegt es naturgemäß nahe, dass sich viele Karnevalisten auf den momentan angesagten, grundsätzlichen Heilsbringer konzentrieren: Das Digitale. Digitale Karnevalssitzungen, Umzüge, Büttenreden, und, und, und …. Doch das Eingangsstatement von Reporter Ebel macht klar, dass sich das eben nicht ins Digitale übertragen lässt. Ebel: „Eine wirkliche Ablenkung ist für mich der digitale Karneval von daher nicht, sondern eigentlich ein Instrument, das uns vor Augen hält, dass eben nichts normal ist. Das kann viele Jecke abschrecken, weil sie sich ja eben danach sehnen, wieder in spürbaren Kontakt mit den Menschen zu treten.“
Karneval digital: Ein Hauch von Karneval
In der Tat. Digitale Events sind eben kein Ersatz für Empathie oder drangvolle Enge. Die finanzkräftigen Traditionskorps der Domstadt etwa brennen auf Facebook ein digitales Feuerwerk ab. Allesamt mit professionellen Videoteams, Grafikern und anderen Kreativen ausgestattet, wird hier zwar die volle digitale Karnevalsrakete abgefeuert, aber Stimmung, „Jeföhl“ oder den Geist des Karnevals sucht man hier vergebens.
Stephan Brandt, Videoproduzent und Karnevalskenner aus Köln sieht darin ebenfalls keinen wirklichen Ersatz: „Digitaler Karneval findet statt, ist aber sehr, sehr stimmungslos. Wenn man schon den ganzen Tag im Home-Office sitzt und sich dann noch eine Sitzung oder Veranstaltung im Netz anschauen muss, tut das weh.“ Für ihn ist es nicht mehr als eine „leichte Art der Ablenkung, um wenigstens einen Hauch von Karneval zu haben“.
„Angenehm überrascht, dass doch Feeling rüberkam.“ (Michael Schwan, Karnevalsexperte)
Etwas positiver sieht es Michael Schwan, Journalist, Karnevalsexperte und ehedem selbst Präsident einer Karnevalsgesellschaft. „Ich habe bisher an drei virtuellen Veranstaltungen teilgenommen und war angenehm überrascht, dass doch ein bisschen Feeling rüberkam. Fast alle Vereine und auch das FK haben ja alternative Formate entwickelt, die auch nach der Pandemie durchaus zum Tragen kommen können“, so Schwan.
Fakt ist, so oder so, dass bereits eine Menge an digitalen Ideen existiert. Wie beispielsweise „Karneval zohus“, die Initiative von Kilian Rullkötter, Rajeshwer Bachu und Marc Warmbier, die sogar bundesweit derlei Formate bündelt. Hier findet man auch Termine, die in Form von Autokino-Sitzungen zumindest einen Hauch von echtem Karneval rüberbringen.
Karneval sozial: Das Miteinander, auch 2021
Indes: wenn man sich einmal ganz tief durch die Massen an jecken Digital-Events durchgegraben hat, tritt eine tolle Grundtugend des Karnevals zu Tage: Die des Miteinanders. Oder: Karneval sozial. „Der Kölner Karneval übernimmt gesellschaftliche und soziale Verantwortung“ ist der siebte von elf Leitsätzen des Festkomitees Kölner Karneval (FK), der wichtigsten Instanz der organisierten Fröhlichkeit. Und diesem Grundsatz kommen die an das FK angeschlossenen Gesellschaften bereits seit Jahrzehnten mit viel Spaß an der Freude nach. Von Sitzungen in Altenheimen über Spendenaktionen bis hin zum Erhalt historischer Bauten, Millionen an Arbeitsstunden werden hier jedes Jahr auf Neue geleistet.
Nicht vergessen darf man auch die Symbolwirkung, die das weltweit bedeutendste soziokulturelle Phänomen zu leisten im Stande ist. So sicherte das älteste Kölner Traditionskorps, die Roten Funken, zu Karneval 2016 den Dom ab. Nach den beschämenden Ereignissen der Silvesternacht 2015, setzten die Karnevalisten damit ein starkes Zeichen.
Wenn das Kölner Dreigestirn auf Ebay versteigert
Und diese Tradition des starken Miteinanders setzt sich – im Großen und Kleinen – gerade auf ganz starke Art und Weise digital fort. Mal ist es des Kölner Dreigestirn, das Sachen für den guten Zweck auf Ebay versteigert, oder es ist das FK, das unter anderem einen Hilfsfonds gegründet hat und ein großes Benefiz-Konzert plant. Denn eines darf man nicht vergessen: Vom Rowdie bis hin zum Gastwirt leben viele, viele Menschen vom Karneval. Existenzen werden vernichtet, weil die Fröhlichkeit in diesem Jahr komplett ausfällt – welch doppelte Tragik.
Im Kleinen gibt es jedoch auch derlei spannende Lichtblicke. Etwa, wenn sich Tanzgruppen, Funkemariechen und Tanzoffiziere mit ihren Trainern via Zoom-Training fit halten und auch jeder von außerhalb einfach so daran teilnehmen darf.
Karneval sozial: Das macht Mut und gute Laune!
Deshalb wage ich mal folgende Prognose. Der echte Karneval ist dieses Jahr durchaus digital unterwegs – aber anders. Er besinnt sich auf wichtige Grundtugenden, die des karitativen Helfens und des gemeinschaftlichen Durchstehens von Krisen. Das hat mit dem ursprünglichen Fest wenig zu tun, macht aber auch Spaß wie jeck.
Text und Fotos: via Sven Hansel
Mehr über die teilweise längst ausverkauften Termine der kölschen Band BRINGS – Ihr seht, was allein hier alles digital geht.
Und hier eine tolle Initiative zur Förderung von Kulturschaffenden im Karneval. Ohfamoos!
Und wer mehr über Karneval als Brauch wissen mag!
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