Nicht warten bis das nächste Todesschiff versinkt
Den alltäglichen Wahnsinn lieben. So lautet unser Slogan. Bei machen Ereignissen aber stockt uns der Atem. Immer dann, wenn durch Wahnsinn Menschen zu Tode kommen – wie im März beim Flugzeugabsturz, wie jetzt wieder auf dem Todesschiff im Mittelmeer. Die einen zerschellt, die anderen ertrunken; man muss stark sein, um solche Meldungen nur zu lesen. Und während ich schreibe, schießt mir durch den Kopf: Wie würde die EU reagieren, wenn Europäer in den Booten säßen und um Asyl bäten?
Würde Daniela Santanché, die als Vertraute von Silvio Berlusconi gilt, dann auch sagen, wie der Tagesspiegel die italienische Politikerin zitiert: „Die einzige Lösung besteht darin, dass Luftwaffe und Marine unverzüglich ausrücken und alle Boote versenken, die an der libyschen Küste zum Auslaufen bereitstehen.“ Ist die Tatsache, dass die Menschen aus Afrika stammen, dafür verantwortlich, dass man ‚Schiffe versenken’ propagiert und letztlich doch schnell wieder zum Alltag zurückkehrt? Es sind ja keine Mütter mit europäischen Kindern in den Wellen versunken – ist das der Punkt?
Und wahr ist auch: Das Flüchtlingsdrama ist ja kein neues, nur die Menge an Toten, die es dieses Mal auf einen Schlag getroffen hat, ist um ein Vielfaches höher. Von den kleineren Booten in Seenot, die es vermutlich täglich gibt, nehmen Medien, und somit wir, doch gar keine Notiz.
Trotzdem: Unglücke wie diese, egal welcher Größenordnung, schockieren. Wenn ich Fernsehbilder sehe, wie afrikanische Mütter ihre Babys auf dem Arm tragen und in die Boote steigen, kann ich nur sagen: Ich bin fassungslos bei der Vorstellung, dass eine Mutter, welcher Nationalität auch immer, so etwas tut, weil sie keinen anderen Ausweg findet. Welche Frau, vermutlich dazu noch Nichtschwimmerin, begibt sich in solche Gefahr und riskiert ihr Kind?
Für Heribert Prantl aus der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung ist die Lage nach der jüngsten Katastrophe klar: Europa töte durch unterlassene Hilfeleistung, so der wortgewaltige Journalist. Dass die Hilfsaktion Mare Nostrum im Mittelmeer gestoppt wurde, ist für ihn „ein Verbrechen“.
Dahinter steht natürlich die Frage, die uns alle betrifft: Wie lange können wir uns noch einmauern, bis wir unseren Reichtum teilen müssen. Und: Wollen oder können wir nicht mehr Menschen aufnehmen bei uns?
Wie machen es andere, Australien zum Beispiel? Spiegel Online und andere Medien setzten sich sofort mit der ‚Operation Sovereign Borders’ auseinander. Denn in den Gewässern vor diesem Kontinent gibt es seit fast anderthalb Jahren eine solche Grenzschutzoperation, die viele jetzt auch im Mittelmeer fordern. Seitdem patrouillieren dort Militärschiffe der australischen Marine in den Gewässern zwischen Indonesien, Papua-Neuguinea und Australien mit dem Ziel, sämtliche Boote mit Flüchtlingen zu stoppen und zurückzuschicken. Bei seeuntauglichen Schiffen kommen die Insassen in Rettungsboote, um zurückgeschickt zu werden.
Viel wird, zum Glück, derzeit geschrieben und neu gedacht. Das ist das einzig Wertvolle an Unglücken: Dass es eine Perspektive für etwas Neues gibt. Deshalb schließe ich mich gerne der Meinung von Michael Backfisch an. Der Journalist hat etliche Jahre seiner journalistischen Karriere im Nahen Osten verbracht; er bloggt in diesen Tagen: „Es kommt jetzt auf praktische Lösungen an. Predigten von der Kanzel des Moralismus helfen ebenso wenig weiter wie Schwarze-Peter-Spiele. Es geht um nichts weniger als eine neue Flüchtlingspolitik. Wir brauchen zügige Schritte – jetzt, bevor das nächste Todesschiff im Mittelmeer versinkt.“
Zwei Stellungnahmen, die ohfamoos wichtig findet
Der frühere Chefredakteur der ZEIT, Theo Sommer, findet hier deutliche Worte
Hier der gesamte Beitrag des Nahost-Experten Michael Backfisch.
Text: Elke Tonscheidt
Foto: Wikipedia
Gerade finde ich einen sehr guten Artikel bei ntv, über eine Frau, die sich wieder in ein solches Flüchtlingsboot setzen würde, mit 2 Kindern!
http://www.n-tv.de/politik/Ich-wuerde-mich-wieder-in-ein-Boot-setzen-article14959831.html