Der mit den Steinböcken tanzt
Neulich habe ich mich ein bisschen verliebt. Am Telefon. Andi Wiesinger, ein Tiroler Extremsportler, rennt zig Kilometer durch die Berge, bestaunt dabei die Anmut des Edelweiß und – majestätische Steinböcke! Er meistert brenzlige Klettersituationen an 700 m tiefen Schluchten und macht bei allem atemberaubend schöne Fotos. Wer ist dieser etwas verrückte Trailrunner mit den blonden Locken? Der in aller Bescheidenheit einfach sein Ding macht und mit seinem Buch an den respektvollen Umgang mit den Königen der Alpentiere appelliert? Ein sehr sympathischer Familienvater, der das Schicksal bei den Hörnern gepackt hat.
„Manchmal muss man da eben durch“ und „es gibt fast immer einen Weg“ – höre ich Andi Wiesinger gleich zu Beginn unseres Telefonats sagen. Ich wollte von ihm wissen, wie man eine Kehrtwende schafft. Schließlich hat er sie allen Unkenrufen zum Trotz geschafft: Nach einer schlimmen Krankheit hieß es vor Jahren, er würde das Laufen und Klettern an den Nagel hängen müssen. Er handelte nach einem Vierklang, wie er ihn beschreibt: Fakten sammeln, eine Lösung finden, den Weg planen und dann das Ziel im Auge behalten. Konsequent und ohne Ausreden dran bleiben ist seine Parole. Die Alternative hätte ihm nicht gefallen. Natürlich! Das Rennen auf alpinen Höhen, der unmittelbare Kontakt mit der Kraft der Natur scheinen für Andi Wiesinger Lebenselixier zu sein.
122 km in drei Tagen gelaufen – 650 Fotos geschossen
Was für ein Gefühl es ist, stundenlang dort oben allein mit sich, zu laufen, zu klettern und zu verschnaufen, will ich wissen. Ich persönlich bin stolz, wenn ich 10 km mit einer vernünftigen Herzfrequenz laufe. Da finde ich dies unfassbar: Andi läuft z. B. in drei Tagen 122 km und bewältigt dabei auf 40 km teils extrem gefährliche und ungesicherte Klettersituationen. Ach ja, zwischendurch werden noch Fotos geschossen. Als er davon erzählte, dass beim ‚Rennen‘ so eine innere Ruhe einkehre, dass das fast wie Meditation sei und er so genießen können, was da oben ist, da hat es bei mir gefunkt. In aller Bescheidenheit beschreibt er seine gewaltigen, körperlichen und mentalen Leistungen. Fast wundert er sich etwas über die Anerkennung dafür von Anderen und die mediale Aufmerksamkeit. Gleichwohl höre ich ihn am Telefonat verschmitzt und jungenhaft lächeln. Dem Schicksal wischt er damit gewaltig eins aus. Von wegen – nicht mehr laufen und klettern!
„Andere basteln im Keller, rennen zum Wirt oder schauen TV. Ich renn‘ den Berg rauf!“
Lebensvirus Berge statt Glotze oder Stammtisch
Es gab so manche Situation, in denen dieser mental gefestigte und suchende Tiroler Jung die Hosen voll hatte. Ohne seine beeindruckende Fähigkeit, zu fokussieren und unerschütterlich sein Ziel im Auge zu behalten, wäre er im wahrsten Sinne da oben schon einige Male abgerutscht. Etwa während eines Probelaufs für die Berchtesgadener Tour, als er in ein Schneefeld geriet. Und er über einen 5 Meter langen, senkrecht hängenden Schneezapfen klettern musste, an dessen Seiten es 700 Meter in die Tiefe ging. Der hohle Zapfen hätte leicht brechen können! In solchen Momenten helfe nur, so Andi „nix falsch machen und hoch konzentriert bleiben.“ Er lacht:
„Zeit für ein Stoßgebet ist erst hinterher.“
Das erzählt er fast beiläufig, so unaufgeregt und nur, weil ich nachbohre. Denn sich selber auf die Schulter zu klopfen, da bin ich sicher, ist so gar nicht seine Art.
Eine weitere Grenzsituation in den Gipfeln der Berge erfuhr er, als er über einen 200 Meter langen Grat balancieren musste; gerade so breit, dass er seine Füße platzieren konnte. Da lag er plötzlich vor ihm und versperrte ihm den Weg: ein Steinbock! Zurück konnte Andi nicht, auf freundliche Aufforderung in seinem Tiroler Dialekt, zaghaftes Husten und Ksch-ksch-Gestik reagierte der Steinbock zunächst mit Niesen (das bedeutet „erschrecken“, wie Andi Jahre später herausfand) sowie gefälliger Ignoranz. Das Tier entschloss sich dann doch, richtete sich auf seine knapp 2 Meter Größe auf und machte dem Trailrunner schnaubend und in aller Seelenruhe Platz.
„Das war ein unglaublich beeindruckendes Erlebnis, wie der Bock da plötzlich schamlos auf meinem Weg lag.“
So resümiert Andi seine erste Begegnung mit dieser Art, die ihn nie wieder los lassen sollte.
Begegnet den Königen der Alpentiere mit Respekt!
Seine vielen Traumfotos zeigt Andi auf unter anderem auf Facebook. Das Interesse ist riesig und so war die Idee geboren, ein Buch zu veröffentlichen. Darin beschreibt Andi Wiesinger Tipps – oder besser Regeln, wie er sagt. Er und sein Verleger Michael Reimer möchten so einen respektvollen Umgang mit diesen wunderbaren Tieren ermöglichen. Sie fragten sich, wie Steinböcke es schaffen, in diesen kargen Gegenden zu überdauern. „Da oben gibt es nix“, stellt Andi fest und „das geht nur, wenn eine Art in aller Bescheidenheit zu leben vermag“.
Andi Wiesinger ist einer, der seinen Weg zu leben trotz ungünstiger Prognose durchgesetzt hat und damit im Reinen ist. Er ist überzeugt:
„Es gibt fast nichts, was mich fertig machen kann. Ich werde immer eine Lösung finden.“
Mit seinen beiden Kindern, heute 9 und 11, wünscht er sich eines Tages eine Steinbocktour machen zu können. Es gibt Kritiker, weiß er, die können sich nicht vorstellen, dass Familienleben, Beruf und Extremsport miteinander funktionieren. Diese Meinung möchte er gern entkräften, sagt er zum Abschluss, als ich ihm anbiete, mir noch etwas zu erzählen, was für ihn von Bedeutung ist. „Es geht sehr wohl“ sagte er dann überraschend vehement, „das ist eine Frage der Prioritäten und Absprachen. Andere gehen in den Keller, in die Wirtschaft oder schauen Fern in ihrer freien Zeit. Ich renne halt den Berg rauf!“ Ohfamoos – diese positive Lebensenergie!
Andi Wiesingers Buch mit großartigen Fotografien und hilfreichen Regeln für die Begegnung mit Steinböcken könnt ihr hier bestellen:
http://www.frischluftedition.de/aktuelles/vorschau/
Nicht ganz so spektakulär, aber aus dem gleichen Verlag und für alle die empfehlenswert, die gern mit Hunden wandern:
https://www.ohfamoos.com/2015/06/hunde-touren-in-deutschland/
Fotos: Andreas Wiesinger