Fokus auf das Wesentliche
Wie fokussiert sind wir auf das Wesentliche? Oder gibt es doch immer hier und da etwas zu tun? Ein kleiner Laden in Bad Nauheim probiert etwas Ungewöhnliches aus … und Gastautorin Sabine Tonscheidt war dabei.
Da war er: der perfekte Moment des Einssein mit der Natur, mit sich, mit den Lebewesen in seiner Umgebung. Ein Schäfer saß auf einem Baumstumpf, neben ihm sein Hund, er hechelte, war dabei voll konzentriert und strahlte Ruhe und Lebendigkeit zugleich aus. Etwa 100 Schafe grasten in der unmittelbaren Nähe auf der Wiese. In diesem Moment gab es nichts weiter zu tun.
Diese Szene beobachtete ich kürzlich aus dem Auto im Vorbeifahren, auf einer Landstraße quer durch den Taunus. Es trieb mir einen kurzen Moment lang die Tränen in die Augen. Vor Rührung, nicht vor Traurigkeit. Ich sah Schäfer und Hund und dachte, wie schön, dass ich trotz Konzentration auf die Straße diese Szene wahrgenommen hatte.
Denn wie oft gehen Dinge einfach an einem vorbei, ohne, dass man sie registriert, ohne, dass sie einen berühren.
Weil der Kopf schon weiter ist als man selbst. Weil es in einem rattert, was noch alles zu tun ist, warum man nicht einfach dasitzen und schauen „darf“, warum es etwas zu erledigen, zu schaffen gilt. In solchen Augenblicken wie beim Vorbeifahren an Schäfer und Hund hingegen, ist der Fokus klar, sind die Sinne geschärft, ist man angekommen beim Wesentlichen, bei der Essenz.
Abendbrote in der Essenz in Bad Nauheim
Das ist es, worauf Katja Weigand, Unternehmerin in Bad Nauheim, bei all ihren Themen und Projekten setzt: die Essenz, das Wesentliche. Bei der Fahrt durch den Taunus kam ich zurück von ihr – aus ihrem Laden Essenz oder ESNZ, wie er in Kurzform heißt, und wo wir abends zuvor einen gemeinsamen Event unter Frauen organisiert hatten.
„AbendBrot“ nennt sich die Reihe, die nun schon zweimal stattgefunden hat und sich vor allem das Vernetzen auf die Fahnen geschrieben hat.
An einer langen Tafel gab es nach einem alkoholfreien Cocktail zu Eintopf und belegten Stullen vor allem gute Gespräche mit einem Dutzend Frauen aus Rheinmain. Die sich überwiegend nicht kannten aber hier kennenlernen konnten: eine Flugbegleiterin, eine Gastwirtin, eine Lehrerin an einer jüdischen Schule, eine Personalentwicklerin, eine Entwicklungsexpertin und andere mehr.
Schon die kleine Vorstellungsrunde unter dem Motto „Wer sitzt heute Abend an der Tafel?“ war so reichhaltig und erfüllend, dass wir das Essen und Trinken fast vergaßen. Viele Schnittstellen taten sich auf, viele gemeinsame Themen und Gedanken – ob gemeinsame Herkünfte in Brasilien oder die Gefühle zum bald bevorstehenden oder bereits erfolgten Renteneintritt:
Es tat gut zu hören, wer wo stand und dass man mit seinen Gedanken nicht alleine ist.
Abende wie diese sind ein Kern des kleinen, feinen Ladens in der Bad Nauheimer Altstadt, den Katja Weigand gemeinsam mit ihrer Geschäftspartnerin Anja Epkes angemietet und erst im vergangenen Dezember eröffnet hat. Gallery, Showroom, Events – so umschreiben die beiden Unternehmerinnen das, was sie mit dem Raum verbinden.
Wer steht hinter der Essenz?
Anja Epkes ist Fotografin, reiste schon um die halbe Welt und begleitete dabei unter anderem musikalische Größen wie Metallica, Alice Cooper oder die Backstreet Boys. Werke von Anja zieren die Wände im ESNZ.
Katja Weigand wiederum gründete vor Jahren eine inklusive Schule in Bad Nauheim, weil ihre zweite Tochter mit dem Down Syndrom geboren wurde und das, was an Didaktik vorhanden war, ihr nicht ausreichte. Seither lassen sie soziale Themen nicht mehr los: Vor drei Jahren entwickelte sie die Projekte „Dein Job am Berg“ (DJAB) und „Dein Job am Meer“, die jungen Menschen, die nach der Schule noch nicht wissen, was sie eigentlich beruflich machen wollen, die Möglichkeit geben, das herauszufinden:
Fünf Monate arbeiten sie in verschiedenen Betrieben im Allgäu oder in St. Peter-Ording– ob in der Gastronomie oder Hotellerie – und nehmen an einem Coaching-Programm teil, das fester Bestandteil des Projekts ist. So lernen sie nicht nur sich, sondern auch andere junge Menschen kennen, wissen im Anschluss, wie Dienstleistungs-Jobs ablaufen, was ihre Stärken sind und wohin die Reise nun gehen darf.
Ohfamoos hatte darüber bereits berichtet.
Leichtsinn oder unternehmerischer Mut?
Gefragt nach dem Konzept für den ESNZ-Laden lacht Katja Weigand: „Ich habe mir schon lange einen Ort für Begegnung gewünscht, einen Raum, der zum Mitgestalten einlädt und an dem Potenzialentfaltung gelebt wird.“ Aber es dürfe nach und nach Neues entstehen, nicht alles brauche von Anfang an einen fixen Plan.
Das mag man Leichtsinn nennen, man kann es aber auch mit unternehmerischem Mut und Innovationskraft umschreiben.
So entwickelt Katja aktuell die ESNZ Märkte Design- und Vintage, die alle vier Wochen stattfinden. Menschen, die ihr Handwerk oder ihre Kunst präsentieren möchten, können Tische anmieten und an einem Samstag im ESNZ-Laden ihre Produkte ausstellen und verkaufen. Die nächsten Termine sind der 24. Februar, der 30. März und der 27. April. Weitere Projekte, wie ESNZ-Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung sind schon in der Konzeption.
Und zwischen all dem gilt es, die innere Ruhe zu finden – wie Schäfer und Hund im Taunus…
Text und Fotos: Sabine Tonscheidt
Die Vintage Märkte auf Instagram
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