„Raus auf die Straßen, rein in die Netzwerke“
Die sogenannte „Geheimplan-Recherche“ des Medienhauses Correctiv hat medial hohe Wellen geschlagen, viele Menschen sind besorgt, gingen oder gehen in den nächsten Tagen auf Demonstrationen gegen Rechts. Wir von Ohfamoos haben die Berliner Autorin und Journalistin Jeannette Hagen interviewt, wie sie ganz aktuell die Lage einschätzt und beurteilt.
In der politischen Berichterstattung geht es, seitdem öffentlich wurde, dass Ende November 2023 ein Treffen von Rechtsextremen in Potsdam stattgefunden hat, im Kern darum: Wie konkret sind die dort besprochenen Pläne, Millionen von Menschen aus Deutschland zu vertreiben? Und wer und was steckt noch dahinter?
Correctiv selbst – so schreibt es die stv. Chefredakteurin Anette Dowideit – freut sich, die Recherche habe offenbar dazu geführt, „dass sich die sonst eher unpolitischen Teile in der Mitte unserer Gesellschaft bewegen und einige auf die Straße gehen“ – allein in Berlin waren es Anfang dieser Woche den Angaben zufolge 25.000 Menschen, Zehntausende schlossen sich in anderen Städten an. Auch in Köln war es eine „massive Bewegung„. Und weitere Demos sind und werden angemeldet.
Hier kann man im Liveblog von Correctiv nachverfolgen, was konkret seit der Veröffentlichung der Recherche geschah.
Jeannette Hagen ist vielen Leser*innen von ohfamoos bekannt. Sie schreibt auch für uns als Gastautorin, war Referentin zum Thema Freiheit auf unseren Unkonferenzen. „Die leblose Gesellschaft“ ist eins ihrer Bücher, so wurden wir bereits 2016 auf die heutige Politologin aufmerksam.
Elke hat Jeannette interviewt – und dabei bemerkt, wie sehr es „ihr Thema“ ist, wie sehr es sie „packt“.
Eine Gesellschaft, sagt Jeannette, die Menschen einsperrt, ihnen Angst macht und ihnen vorschreibt, wie sie zu sein haben, möchte sie nie wieder erleben. Deshalb positioniert sie sich klar gegen Rechts.
Jeannette ist in der DDR aufgewachsen, konnte erst ein Dreivierteljahr vor dem Mauerfall ausreisen und erlebte in der DDR, die letzten zweieinhalb Jahre ohne Eltern, was Diktatur bedeutet. Für sie der Grund, warum sich Jeannette heute aktiv für Menschenrechte und für Freiheit einsetzt.
Interview mit Jeannette Hagen
Nina Strassner, Global Head of People Initiatives für SAP, hat in einem vielbeachteten LinkedIn-Beitrag geschrieben: „Wir können es uns schlicht nicht leisten endlos bestürzt, besorgt, entrüstet und schockiert zu sein. Wir müssen Haltung zeigen, keine Angst haben, öffentlich aufstehen, wählen gehen – und reden.“ Auch Deine Meinung, oder?
Jeannette Hagen: Ja, vollkommen. Wir haben uns leider diese Gefühle viel zu lange erlaubt, haben aber nicht gehandelt. Und viele tun noch heute so, als würde der Kasper gerade erst aus der Kiste hopsen. Nein, Leute! Ran! Seit Jahrzehnten warnen Expert*innen, und es ist ein bisschen wie mit der Klimakrise: Man hört die Warnungen, aber es passiert nichts. Es sich nur intellektuell anzuschauen, das reicht nicht. Wir, vor allem die Politik, haben es zugelassen, dass sich die rechten Strukturen ausbreiten konnten. Der Umfang ist mittlerweile besorgniserregend und braucht nun ganz klar: Handlungen! Offensiv. Sonst kippt das ganze System.
Wie kann das Handeln konkret aussehen?
Auf die französische Art ausgedrückt: Auf die Barrikaden gehen. Also, raus auf die Straßen, rein in die sozialen Netzwerke, gegenhalten. Gegen Hass und Hetze antreten, mit den eigenen Abgeordneten vor Ort ins Gespräch kommen. Denen Mut machen, dass sie sich klar positionieren, denn die Politik ist viel zu leise.
Du hast die Kommunalpolitik erwähnt, wie laut ist denn die Bunderegierung?
Es ist mittlerweile ein Drama, dass wir eine Regierung haben, die es nicht schafft, klare Grenzen zu setzen, stattdessen rumeiert. Wir verspielen so unsere Demokratie. Wer mit offenen Augen durch unser Land geht, findet sehr beängstigende Anzeichen, die eine ganz klare Haltung erfordern. Das ist wie beim Mobbing.
Mobbing? Das musst Du bitte erklären.
Wenn jemand in einer Schulklasse gemobbt wird, dann ist das Schlimmste, was passieren kann, dass alle irgendwie weggucken. Dass dann alle versuchen auf eine nette Art zu verschleiern, wie: Ach, das kriegen wir schon hin. Nein! Diejenigen, die mobben, müssen raus aus dem Klassenverband, die müssen ganz klar zu spüren bekommen, wer Opfer und wer Täter ist. In der Politik muss ähnlich klar gehandelt werden.
Wie kann denn das demokratische Lager in dieser Situation heute ganz konkret zusammenrücken?
Zusammenrücken bedeutet sich klar zu vernetzen. Wir sehen jetzt gerade die schnelle Mobilisierung auf den Straßen, es gehen Menschen auf die Straße. Diesen Flow gilt es zu nutzen: Darauf aufbauend sich auszutauschen, Gesicht zeigen. Auch Prominente und Künstler müssen Gesicht zeigen, denn wir brauchen Menschen, die vorangehen. Dann werden Menschen wach. Wenn es laut wird, schließen sich viele an. Es braucht jetzt Leader mit klaren Visionen, um für Deutschland eine Geschichte zu formulieren, an denen sich wieder andere orientieren können.
An welche Prominente denkst Du?
Ein Herr Jauch oder Rezo – um mal zwei Generationen zu umfassen – könnten sich hinstellen und Flagge zeigen. Niemand sollte sich jetzt hinter einem Management verstecken oder um seine Karriere bangen, denn es geht um mehr: Es geht um unser Land, um die Verteidigung unserer Demokratie. Wenn wir jetzt nicht aufwachen, ist es mit vielen Karrieren vorbei, die keiner deutschen Leitkultur entsprechen.
Große, beängstigende Themen wie Krieg oder Corona haben Beziehungen gesprengt, ganze Familie haben sich darüber zerstritten – das Thema möglicher Rechtsruck im Wahljahr 2024 hat ähnliche Sprengkraft. Warum müssen Demokraten hier immer wieder Flagge zeigen?
Die Sprengkraft ginge ja nicht verloren, würde die AfD an die Macht kommen. Das wäre ja noch viel schlimmer. Und das haben wir ja schon mal überwunden. In einem Land zu leben, das Menschen ausgrenzt, ist für mich unvorstellbar.
Aber unterdrückt man nicht die Stimmen derer, die eben nicht Deinen Auffassungen folgen?
Ja, das stimmt. Aber dieses Land basiert auf einem demokratischen Grundgesetz und wir haben uns darin darauf verständigt, dass es nicht in Ordnung ist, nach wertem oder unwertem Leben zu unterscheiden. Jeder einzelne Artikel des Grundgesetzes muss erfüllt werden. Eine Partei wie die AfD agiert gegen dieses Grundgesetz und das können wir nicht zulassen. Es ist schmerzhaft, in solchen Prozessen jemanden zu verlieren, ja. Aber es ist wie oben analog beim Mobbing beschrieben: Die Haltung muss glasklar sein, am besten von der ersten Sekunde an. Wenn Menschen auf dem falschen Weg sind, weil sie andere aus der Gesellschaft heraus drängen wollen, müssen wir ganz klar machen, dass das nicht geht und der Konsens der Gesellschaft ein anderer ist. Wer sich aus diesem Spektrum herausbewegt, muss wissen, dass es Konsequenzen hat.
Ich empfehle dazu das wunderbare Buch von Carlo Sprenger, Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit.
Vielen Dank für das Interview, liebe Jeannette!
Fotos: privat
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